Jitka hatte die erste Einheit hinter sich gebracht. Sie verabschiedete sich so höflich, wie sie es fertigbrachte von Professor Galiano und packte alle Noten in ihre Tasche. Das Clara Schumann Konzert und den Chopin. Sie hatte sofort bei der Anmeldung bekannt gegeben, dass sie vorhatte die Schumann zu spielen und sich dementsprechend vorbereitet. Aber nein, der Professor hatte ihren Wunsch schlichtweg ignoriert, ohne ihr das auch nur mitzuteilen.
"Ach, die Schumann hat ja ganz nette Stücke komponiert, aber wäre sie keine Frau und hätte sie nicht Robert Schumann geheiratet, dann würde heute kein Mensch mehr von ihr reden."
"Wäre sie keine Frau gewesen, hätte man ihre Stücke ernster genommen und sie öfter gespielt", hatte Jitka entgegnet und sich alle Mühe gegeben nicht sofort in die Luft zu gehen.
"Ich bitte Sie, Signorina. Eine talentierte Frau wie Sie sollte gute von mittelmäßiger Musik unterscheiden können. Sie sind jung und hübsch und haben es überhaupt nicht nötig, sich so feministische Flöhe ins Ohr setzen zu lassen. Haben Sie das Concerto No. 1 von Chopin schon einmal gespielt? Das darf in ihrem Repertoire keinesfalls fehlen, und Sie können daraus gewiss mehr lernen als von Clara Schumann."
In der Pause hatte sie Karina einige wütende Nachrichten geschickt. Die war bestimmt genauso vor den Kopf gestoßen, wie sie selbst. Sie sollte doch mit den Musikern den Orchesterpart einstudieren und war ebenso der Meinung gewesen, es ginge um Clara Schumann. So etwas schüttelte man nicht einfach aus dem Ärmel.
"Machen sie nicht so ein böses Gesicht, das steht Ihnen überhaupt nicht. Dass sie den Wettbewerb gewonnen haben, bedeutet noch lange nicht, dass sie sich hier aufführen können wie eine Prinzessin." Jitka hatte tief durchgeatmet, im Geiste bis Zehn gezählt und dann beschlossen das Beste draus zu machen. Sie hatte sich früher schon einmal mit diesem Chopin Konzert beschäftigt und außerdem spielte sie recht gut vom Blatt. So konnte sie am Ende der Lektion zumindest sagen, sie hätte sich professionell verhalten. Sie würde noch einige Tage mit diesem Professor überstehen müssen, ehe die ersten Orchesterproben drankamen.
Als sie die Musikuniversität durch den Haupteingang verließ, wartete dort auf der Treppe sitzend bereits ein junger Mann auf sie. Sie kannte ihn noch aus Moskau, und auch wenn sie dort kaum mit ihm gesprochen hatte, wusste sie mittlerweile genau, wer er war. Der Bruder, beziehungsweise Halbbruder, der Frau, von der Karina die letzten Monate über ständig sprach: Der unvergleichlichen Sylvie Poulsen. Sie hatte diesen Erik damals nicht weiter beachtet. Sie war in ihre Proben vertieft gewesen und er vermutlich ebenso. Außerdem war er, wie sie später erfahren hatte, gesundheitlich ziemlich angeschlagen gewesen. Er hatte sogar das letzte und entscheidende Vorspiel verpasst. Somit hatte er wohl andere Sorgen gehabt als Smalltalk mit der Konkurrenz. Jetzt machte er jedenfalls einen viel vorteilhafteren Eindruck. Sein Gesicht war leicht gebräunt, was gut zu seinen dunklen Haaren passte. Er nahm seine Sonnenbrille ab und kam lächelnd auf sie zu. Dabei wirkte er eigentlich ganz sympathisch.
"Hallo Jitka", sagte er. "Sylvie hat mir geschrieben, sie und Karina sitzen bereits in irgendeinem Café und warten auf uns. Es kann nicht weit von hier sein. Wie war deine Probe?"
"Ach, frag mich das nicht. Ich hatte schon mal bessere Chemie mit einem Professor, aber es läuft eben nicht immer so, wie man sich's vorstellt. Wie war's bei dir?"
"Nicht schlecht", antwortete er, während sie an pompösen Gründerzeithäusern vorbeischlenderten. "Ich hab mir in letzter Zeit eine kleine Auszeit von der exzessiven Überei genommen und befürchtet ich sei hoffnungslos eingerostet, doch eigentlich bin ich jetzt ganz frisch und motiviert. Aber es tut mir leid, dass es bei dir nicht so gut gelaufen ist."
"Ach was", gab sie mit einer wegwerfenden Handbewegung zurück. "Mit dem Professor werde ich fertig und mit dem Chopin erst recht."
Mittlerweile standen sie auf einem imposanten, von Arkadenreihen umgebenen Platz, auf dem überall Kaffeehaustische und Sonnenschirme aufgebaut standen. Weiter unten führte eine Brücke über einen Fluss, das musste wohl der Po sein. Im Hintergrund zeichneten sich bewaldete Hügel ab.
"Hier muss es irgendwo sein", sagte Erik und studierte konzentriert den Stadtplan auf seinem Smartphone.
"Hier gibts ein Café neben dem anderen. Wie sollen wir die beiden je finden?", staunte Jitka. Doch da entdeckte sie eine zwischen den Tischen aufragende Hand, die ihr zuwinkte: Karina und neben ihr richtete sich eine schlanke, schwarzhaarige Frau gerade auf und kniff die Augen gegen die blendende Abendsonne zusammen. Das war sie also, diese Sylvie, von der Jitka schon mehr gehört hatte, als sie jemals wissen wollte. Karina sah jedenfalls ganz furchtbar glücklich aus und das wollte sie ihr gerne gönnen.
"Kommt, setzt euch zu uns", rief Karina und die beiden ließen nicht lange auf sich warten. Auf dem Tisch standen zwei orange in der Sonne leuchtende Gläser Aperol Sprizz und daneben Schälchen mit Erdnüssen, Chips und Oliven.
"Etwas Alkohol kann ich jetzt echt gebrauchen", stöhnte Jitka und ließ sich in den Sessel fallen. Als der Kellner kam, bestellten sie und Erik ebenfalls jeweils ein Glas von dem verlockend aussehenden Getränk. Karina machte Jìtka mit Sylvie bekannt und Sylvie stellte Karina ihren Bruder vor und damit waren die Formalitäten erledigt. Karinas Probe konnte keine halbe Stunde vor ihrer geendet haben und doch hatte Jitka den Eindruck, dass die beiden Frauen hier nicht bei ihrem ersten Gläschen saßen.
"Karina!", platzte es dann aus ihr heraus. "So eine Frechheit! Dich hat er genauso wenig informiert. Du hättest mir doch gesagt, dass ich den Chopin üben soll?"
"Ich war genauso überrumpelt wie du", gab Karina zu. "Glücklicherweise kenne ich das Konzert ganz gut, ich habe es erst kürzlich in Bratislava dirigiert. Allerdings habe ich heute mit Eriks Beethoven Konzert begonnen, wir werden also die Orchesterprobe dafür vorziehen, wenn das für dich in Ordnung ist, Erik. Dann kann Jitka sich noch in ihr Konzert einarbeiten und ich auch."
Jitka gab einen missmutigen Brummlaut von sich und machte einen Schluck aus ihrem Glas.
"Augen zu und durch", sagte Karina. "Der Chopin wird dir nicht schaden."
"Das hat der Galiano auch gesagt", seufzte sie. Sie gab nur ungern zu, dass Galiano Recht hatte. Abgesehen davon hätte ihr die Schumann ebenso wenig geschadet.
"Bei meinem Konzert im Herbst darfst du dir das Stück aussuchen, versprochen", sagte sie und fingerte sich noch ein paar Kartoffelchips aus der Glasschale.
"Übrigens bin ich sehr froh, dass du zugesagt hast, Erik. Wir können leider keine allzu hohe Gage zahlen, aber du bekommst eine Aufwandsentschädigung und eine Erstattung der Reisekosten."
Im Grunde kannte Karina Erik überhaupt nicht gut und Jitka wusste nur zu gut, weshalb ihre Freundin darauf bestand, dass gerade er in Prag mitspielte. Sie wollte nichts lieber, als Sylvie zu einem Auftritt zu überreden. Die Star-Geigerin, die der Bühne abgeschworen hatte und sich lieber mit russischer Politik befasste. Aber es musste natürlich subtil geschehen. Und vielleicht auch mit Alkohol. Wenn sich Karina etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie durch nichts davon abzubringen.
Hallo und Willkommen in dieser Geschichte. Wenn du es bis hierher geschafft hast, möchte ich mich für deine Aufmerksamkeit bedanken. Die Handlung ist nun in vollem Gang und und du bist jetzt allen vier Hauptpersonen persönlich begegnet. Vielleicht magst du mir ja ein Vote hierlasen, oder sogar einen Kommentar. Mich würde interessieren, was dir gefallen hat und was weniger.
Bildnachweis: Wikipedia/HieuMarco
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficção GeralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...