Mehrere Wochen waren vergangen und Sylvie saß wieder in ihrem Büro in der Außenpolitikredation von Danmarkspressen. Sie überprüfte gerade die letzten Fakten für einen Artikel, den sie noch diesen Vormittag fertigmachen wollte, als sie eine Freundschaftsanfrage ablenkte, die via Facebook auf ihren Bildschirm flatterte. Zusammen mit einer kurzen, auf russisch geschriebenen Nachricht. Das überraschte sie ihm ersten Moment nicht sehr, immerhin war sie hier als Russlandexpertin angestellt. Die Anfrage stammte von einer gewissen Karina Majkusová aus Prag und als sie sich durch das Profil klickte erkannte sie die rothaarige Dirigentin, mit der sie in Moskau gesprochen hatte.
"Liebe Frau Poulsen", schrieb sie förmlich, "ich hoffe, Sie empfinden mich nicht als zu aufdringlich. Wir haben uns in Moskau kurz unterhalten und ich möchte nur sagen, wie ich mich gefreut habe, Sie persönlich kennen zu lernen. Es tut mir leid, dass Ihr Bruder so schwer erkrankt ist und ich hoffe, dass es Ihm mittlerweile wieder besser geht.
Liebe Grüße aus Prag, Karina"
Sylvie stand auf und holte sich noch einen Kaffee. Das hier war irgendwie irritierend, aber auch schmeichelhaft. Ganz so als hätte sie einen Fan. Für etwas das sie mit Zweiundzwanzig vollbracht hatte. Vor über zehn Jahren. Damals in einem anderen Leben. Sie setzte sich wieder an den Rechner und begann zu recherchieren, was es über diese Karina zu finden gab: Sie hatte ebenfalls am Moskauer Konservatorium studiert, hatte mit Cello und Klavier begonnen und war später auf Dirigat umgestiegen. Eine Tatsache, die Sylvie einigen Respekt abverlangte und auch ihre Neugier weckte. Frauen waren in diesem Fach mittlerweile zwar häufiger, aber immer noch in der Minderzahl und nicht wenige warfen den Taktstock wieder hin, weil es ganz schön frustrierend sein konnte, sich ständig gegen die Vorurteile alter Männer behaupten zu müssen. Karinas Anfangszeit am Konservatorium fiel offenbar mit dem Wettbewerb zusammen, den Sylvie damals gewonnen hatte.
Es juckte sie in den Fingern, sofort zu antworten. Karina musste bemerkt haben, dass sie die Nachricht gleich gelesen hatte. Aber etwas hielt sie zurück, sie wollte nicht verraten wie geschmeichelt und neugierig sie war.
Kurz bevor sie sich an diesem Abend ausloggte, tippte sie noch eine Antwort in das dafür vorgesehene Fenster.
"Liebe Karina,
vielen Dank für Ihre freundliche Nachricht. Ich muss mich für mein Benehmen entschuldigen. Ich habe mich nicht einmal verabschiedet. Danke der Nachfrage, meinem Bruder geht es glücklicherweise wieder besser. Er ist immer noch ziemlich durch den Wind, aber ich habe ihm den Wahnsinn weiterer Wettbewerbe für mindestens das nächste halbe Jahr ausgeredet und auf seine große Schwester hört er für gewöhnlich. Herzlichen Glückwunsch übrigens an Ihre Freundin Jitka, sie hat sich den Sieg schwer verdient.
Beste Grüße, Sylvie"
Sylvie musste sich zu ihrer Schande gestehen, dass sie Jitkas Darbietung nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Die Tatsache, dass Erik nicht zum Vorspielen erschienen war, hatte sie zu sehr beschäftigt, und wie sich herausgestellt hatte, war sie zurecht besorgt gewesen. Zurück in Kopenhagen hatte sie ihre Beziehungen spielen lassen und Erik eine Stelle als Studiomusiker besorgt. Dann hatte er zumindest für die nächste Zeit ein fixes Einkommen ohne den Stress, ständig auf Wettbewerbe und Stipendien angewiesen zu sein. Er war zwar hübsch, charmant und talentiert, aber ein Großmeister der lebenspraktischen Überlegungen war er noch nie gewesen. Manchmal kam sie sich eher vor wie seine Mutter, als seine große Schwester. Vor allem jetzt wo Mama, nach ihrer kürzlichen Wiederverheiratung quasi frischgebackene Stiefmutter von siebenjährigen Zwillingen war. Da war es nur natürlich, dass sie sich darauf verließ, dass ihr achtundzwanzigjähriger, erwachsener Sohn sein Leben einigermaßen selber auf die Reihe bekam, ohne in Moskau beinah an einer Influenza zu versterben.
Sylvie zog sich Haube und Handschuhe an und schwang sich dann auf ihr Fahrrad. Ihr Freund Vincent hatte ihr mitgeteilt, er hätte auf dem Heimweg Abendessen organisiert. Er arbeitete in der gleichen Redaktion und hatte heute außer Haus recherchiert. Auf dem Weg zu Vincents Wohnung schaute sie noch bei Erik vorbei. Irgendwann würde sie ihm bestimmt auf die Nerven gehen, aber sie hatte nicht vor ihn einfach so sich selbst zu überlassen. Als sie zu seiner Wohnung kam, machte ihr niemand auf. Also schickte sie ihm eine Nachricht und es stellte sich heraus, dass er mit Kollegen aus dem Studio was essen gegangen war. Hatte sie sich etwa vorgestellt, er würde ohne sie alleine am Klavier verhungern? Wie auch immer, sie war einigermaßen erleichtert, dass er wieder begann, sich wie ein normaler Mensch zu benehmen und mit anderen Menschen kommunizierte, anstatt immer nur mit seinem Klavier.
Als sie an den Kopenhagener Seen entlang zu Vincents Wohnung radelte, beobachtete sie die sich auf die Nacht vorbereitenden Schwäne, und fragte sie sich wie gut ihr Bruder Karina und Jitka eigentlich kennen gelernt hatte.
Als sie am nächsten Morgen in der Arbeit den Rechner einschaltete, hatte sie wieder eine Nachricht von Karina.
"Liebe Sylvie,
ich bin froh zu hören, dass es Erik besser geht. Kommt er nicht auch im August nach Turin zu der Meisterklasse, zu der die Wettbewerbsfinalisten eingeladen wurden? Übrigens organisiere ich im Herbst ein Konzert in Prag und ich wollte Erik fragen, ob er nicht etwas beitragen will. Könnten Sie ihm vielleicht sagen, dass er mich kontaktieren soll?
Alles Liebe, Karina"
Sylvie schrieb ihr in der Mittagspause zurück und noch vor dem Heimgehen hatte sie eine Antwort. Mit der Zeit wurden die Nachrichten länger, persönlicher und sie begannen sich zu duzen. Sie sprachen über Musik und lästerten über den einen oder anderen nervigen Professor im Konservatorium. Und noch ehe Erik sich dessen bewusst wurde, dass er diesen Sommer an einer Meisterklasse in Turin teilnehmen würde, hatte Sylvie schon geplant, ihn dorthin zu begleiten.
Bildnachweis: Thue/Wikipedia (Die Kopenhagener Seen)
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
قصص عامةManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...