109. Kapitel - Zwischen den Welten

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Erik hob den Kopf und blickte zur Decke des Aufzugs. Diesmal konnte er dort die Öffnung entdecken, nach der er immer gesucht hatte. So als hätte jemand eine der Platten weggeschoben. Vielleicht war sie auch verrutscht, als der Aufzug vorhin so stark geruckelt hatte. Jedenfalls gähnte dort oben jetzt ein ominöses, schwarzes Viereck.

„Seid ihr von dort gekommen?", fragte er die Beiden, die vor ihm standen. Die alte Frau im Bademantel und das kleine Mädchen mit Wollmütze und Glocke. Das Kind blickte nun auch nach oben, die Frau aber schaute Erik direkt in die Augen.

„Meinst du wirklich?", fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich denke schon. Wie könnt ihr sonst hierher gekommen sein?"

„Vielleicht sind wir einfach durch die Schiebetür gegangen. Genauso wie du."

War er wirklich durch die Tür gekommen. Er konnte sich nicht daran erinnern. Vielleicht war das so gewesen. Vielleicht war auch er durch diese Öffnung in der Decke geschlüpft. Aber die Frau sagte, dass er das nicht war.

„Was ist dann dort oben?", fragte er sie. Warum konnte er seinen Blick nicht abwenden, wenn dort angeblich nichts war? Wenn niemand und nichts von dort kam. Das Mädchen schaute doch auch hinauf. Das musste einen Grund haben.

„Du willst gar nicht wissen was dort ist", erklärte ihm die Frau.

„Doch, ich muss", sagte er. Er wusste, dass die Zeit drängte, aber er wusste nicht warum.

„Hast du noch nie Dreck und Spinnweben gesehen, mein Junge?", fragte sie ihn und klang dabei wie so eine alte Tante, die einem kleinen Jungen seine Flausen ausreden wollte. „Ja, schau nicht so verwundert. Was hast du dir denn in einem Liftschacht sonst noch vorgestellt?"

Erik war enttäuscht und er spürte wie sich nun auch Trotz und Ärger in ihm ausbreiteten. Er wusste auch nicht, was er erwartet hatte, aber irgendwelche Antworten hatte er schon zu finden gehofft. Und wer sagte ihm, dass die Frau die Wahrheit sagte ... vielleicht wusste sie es ebenso wenig.

„Ich will nachschauen", sagte er und blickte sich im Lift um, in einer Ecke war tatsächlich eine Leiter an der Wand befestigt. Eben. Die war da bestimmt nicht umsonst.

„Mach das. Der Lift steckt im Moment ohnehin fest."

Erik kam sich immer bescheuerter vor. Nicht einmal das hatte er bemerkt.

„Wohin fahren wir überhaupt?", fragte er, während er ungeduldig an der Leiter zerrte, um sie aus ihrer Verankerung zu lösen.

„Das fragst du uns? Das solltest du wissen", entgegnete die Frau immer noch mit ganz ruhiger Stimme. Das Mädchen blieb wie immer stumm. Bis jetzt hatte er die beiden immer als tröstlich erlebt und er hatte gedacht, dass sie ihm irgendwas erklären konnten, aber sie waren ihm jetzt überhaupt keine Hilfe mehr.

Endlich hatte er die Leiter in der Hand. Sie ließ sich auseinanderschieben, sodass sie bis in die Deckenluke reichte und er sie dort anlehnen konnte. Ihm wurde immer klarer, dass er nicht mehr herausfinden wollte, wo dieser Aufzug hinfuhr, sondern, dass es viel dringender war dort hinauf zu kommen.

„Könnt ihr wenigstens die Leiter festhalten?", fragte er etwas genervt, da er annahm, sie würden ihn an seiner Entdeckungstour eher hindern wollen. Er war überrascht, als die beiden sich ohne Widerrede rechts und links der Leiter hinstellten und sie festhielten. Gleichzeitig wusste er, dass es keinen Unterschied machen würde, ob er von der herunterfiel oder nicht. Egal was hier passierte, es war schließlich nicht echt.

Er kletterte so behände, wie ihm das schon seit Monaten nicht gelungen war, empor zu der Öffnung. Ohne zu zögern, griff er nach den Metallverstrebungen, zog sich hoch und schob sich hindurch in den finsteren Liftschacht. Doch kaum hatte er seine Beine nachgezogen, da wurde er von einem starken Luftstrom erfasst und mitgerissen.

Das nächste, das er wahrnahm, waren grelles Licht und der beißende Krankenhausgeruch. Er hörte die Geräusche piepsender Geräte und Stimmen, die seinen Namen sagten. Er blinzelte und am Anfang war alles ziemlich verschwommen, doch als sein Blick sich klärte, sah er Dr. Nørregard und noch ein paar andere Menschen, die er nicht kannte und die ebenfalls Krankenhauskittel trugen.

Sie stellten ihm Fragen, wie er denn heiße, ob er wisse, wo er sei, wie viele Finger er vor sich sehen könne und noch einiges Anderes. Anscheinend konnte er alles zur Zufriedenheit beantworten und man teilte ihm mit, er habe die Operation überstanden, er habe Glück gehabt und in ihm befände sich nun eine mechanische Herzklappe. Man würde ihn nun auf die Intensivstation verlegen, seine Angehörigen warteten bereits ungeduldig auf ihn. Sie sagten bestimmt noch einiges mehr, das er einfach zur Kenntnis nahm ohne sich irgendwas davon zu merken.

Er fühlte sich noch nicht imstande Erleichterung oder sonst irgendwas zu empfinden. Vielleicht war das alles noch durch die Medikamente irgendwie gedämpft. Immerhin tat ihm nichts weh. Sein Brustkorb fühlte sich trotzdem irgendwie komisch an. Der Druck, der da immer gewesen war, schon so lange, dass er ihn kaum noch wahrgenommen hatte, der war weg. Und auch dieses Pochen in seinen Ohren. Dafür gab es da jetzt ein anderes Geräusch, das sich von dem Summen und Piepen und Rumoren in seiner Umgebung unterschied. Ein Ticken, das viel näher klang als die anderen Maschinen, aber er konnte es nicht richtig zuordnen.

Irgendwann tauchten die bekannten Gesichter seiner Mutter und von Jitka vor ihm auf. Und auch Sylvie und Karina. Sie alle zu sehen erfüllte ihn mit einer angenehmen Ruhe. Sie sahen ihn an und sahen ebenfalls zufrieden aus. Irgendwann waren sie wieder weg. Und irgendwann wurde ihm auch ziemlich übel. Er fand heraus, dass es eine verzichtbare Erfahrung war, sich mit frisch gespaltenem Brustbein übergeben zu müssen, selbst, wenn man mit Schmerzmitteln zugedröhnt war. Aber auch das ging vorbei.

Er hörte hektische Stimmen um sich herum und dann wurde zum Glück alles wieder dunkel. Er spürte wieder einen Windstoß und als Nächstes stürzte er ziemlich unsanft durch die Deckenluke in den Lift. Doch er stand einfach auf. Er wusste ja, dass man sich hier nicht wehtun konnte. Es sah alles aus wie vorher. Die alte Frau und das Mädchen waren beide noch hier. Nur die Leiter war weg. Entgeistert starrte er nach oben.

„Die Leiter ist vorhin mit dir nach draußen geflogen", sagte die alte Frau. „Du hättest nicht versuchen sollen rauszuklettern, das war sinnlose Mühe."

Erik schüttelte den Kopf. Was wollte sie ihm damit sagen? Das Mädchen hielt die Glocke in der Hand. Wenn sie bloß nicht damit läutete.

„Ich muss hier raus. Ihr müsst mir eine Räuberleiter machen. Schnell!", rief er. Doch die Frau schüttelte nur lächelnd den Kopf.

„Also ich bin zu alt, um dich da raufzuheben und sie ist zu klein", sagte sie und deutete auf das Mädchen. „Hab Geduld. Es kommt schließlich alles wie es kommen muss."

„Was soll das heißen? Könnt ihr mir nicht einmal eine richtige Antwort geben?" Doch daraufhin schwiegen Beide und das Mädchen hielt weiterhin die Glocke in seinen Händen fest. Was wenn der Lift wieder ruckelte und die Glocke zum Klingeln brachte. War dann alles vorbei?

Er sah sich um. In diesem Aufzug gab es keine Knöpfe, die man drücken konnte, wenn man irgendwohin wollte. Resigniert ließ er sich gegen die Wand sinken. Er konnte anscheinend wirklich nichts tun. Zumindest schien der Lift sich zu bewegen, er konnte ein Surren und ein Ticken hören. Er wusste nicht warum, aber irgendwas in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass das Ticken ein gutes Zeichen war. Plötzlich ruckte der Lift. Er wollte auf das Mädchen hinspringen und die Glocke festhalten, damit sie nicht losging. Aber das war nicht notwendig. Alles was er hörte war der elektronische Jingle, den der Lift von sich gab, um ihnen mitzuteilen, dass sie angekommen waren. Dann öffneten sich die Schiebetüren.

„Siehst du?", sagte die alte Frau. „Man muss nur Geduld haben. Leb wohl!" Sie lächelte und das Mädchen ließ mit einer Hand die Glocke aus und winkte ihm. Er sah sich noch einmal um, als er verwirrt aus dem Lift spazierte. Als er draußen war und die Türen sich wieder schlossen, wusste er, dass er die alte Frau und das Mädchen so schnell nicht mehr treffen würde.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt