"Was war das jetzt?", fragte Karina und musterte Sylvie stirnrunzelnd, als sie wieder im Stiegenhaus standen. Sie hätte zu gerne gewusst, was sie und ihr Bruder im Schlafzimmer miteinander gesprochen hatten. Doch Sylvie zuckte nur ungerührt mit den Schultern.
"Keine Ahnung", sagte sie.
"Erik hat irgendwie wütend ausgesehen. Was hast du ihm getan?" Sie bemühte sich, ihren Tonfall beiläufig und ironisch zu halten. Sylvie sollte lieber nicht auf die Idee kommen, dass Karina ihr nur andeutungsweise Vorwürfe machen wollte. Oder, dass sie implizierte, es wäre vielleicht nicht so überraschend, wenn Erik und Jitka es nicht besonders toll fanden, dass sie morgens so bei ihnen im Schlafzimmer herumrumorte. Warum hatte sie nicht einfach die Geige und einen Pulli geschnappt und war wieder gegangen? Aber Karina wollte sich hüten, etwas Derartiges zu fragen. Jitka würde ihr schon alles erzählen.
"Nichts hab ich ihm getan", sagte Sylvie nur. "Erik ist in der Früh leicht zu beleidigen. Und vielleicht habe ich die eine oder andere Bemerkung gemacht, die nicht ganz notwendig war", gab sie zu. Karina ertappte sich bei dem Gedanken, dass Sylvie doch auch einsichtig sein konnte, als diese hinzufügte: "Aus seiner Sicht. Ich wage zu behaupten, dass mein Hinweis durchaus angebracht war." Karina sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und wartete darauf, dass Sylvie eine Erklärung folgen ließ. Doch sie wurde enttäuscht.
"Lassen wir das einfach", schloss Sylvie das Thema. "Hier ist ein Zeitungskiosk, da bekomme ich meine Wochenkarte, oder?" Karina nickte. Damit war die Chance noch etwas Vernünftiges aus ihr herauszubekommen wohl vorbei. Nach dem gestrigen Gespräch war es wohl das Beste sie mischte sich nicht unnötig in Dinge ein, die vor allem Sylvie und Erik etwas angingen. Auch wenn sie es für besser hielt, das Ganze im Auge zu behalten.
Nachdem Sylvie ihren Fahrschein gekauft hatte, stiegen sie in die Straßenbahn und fuhren in Richtung des Konzertsaals, der auf der anderen Seite des Flusses lag.
"Bist du nervös?", fragte Karina, als sie sich auf zwei einander gegenüber liegende Plätze am Fenster setzten. Sylvie, die ihren Geigenkoffer mit beiden Händen festhielt, sah sie nur an und ihre Augenbrauen gingen leicht nach oben.
"Nervös? Warum?"
Karina zuckte mit den Schultern. "Sag du mir's", antwortete sie und lächelte dann. "Ich bin jedenfalls ziemlich aufgeregt. Ich habe mir seit Wochen versucht vorzustellen, wie das sein wird. Du und ich zusammen vor dem Orchester!" Es würde großartig sein. Ihre Phantasie kam gewiss nicht einmal in die Nähe dessen, wie es sich wirklich anfühlen würde.
"Ja", sagte Sylvie und lächelte ebenfalls. "Es fühlt sich immer noch irgendwie unwirklich an", sagte sie dann. "Während des Übens habe ich versucht, mir alles zu visualisieren ..." Sie brach kurz ab und blickte aus dem Fenster der rumpelnden Straßenbahn, schien kurz zu überlegen. "Es hat sich nie echt angefühlt. Aber spätestens jetzt wird es das, nicht wahr?" Ihr Lächeln wirkte jetzt ein wenig unsicher.
Natürlich war sie angespannt, da war es wohl kein Wunder, wenn ihr Erik gegenüber irgendeine dumme Bemerkung herausrutschte. Karina versuchte, sich in Sylvie hineinzudenken. Wie es für sie sein musste, nach so vielen Jahren wieder ein richtiges Konzert zu spielen. Und sie konnte es sich nicht vorstellen. Sie konnte noch immer nicht begreifen, wie es sich für Sylvie angefühlt haben musste, einfach aufzuhören. Dass es eine vollkommen rationale Entscheidung gewesen war, wie sie sagte. Vielleicht war es das wirklich gewesen. Für Sylvie schienen die Dinge so zu funktionieren, aber für Karina war so etwas einfach unbegreiflich.
Vielleicht war es auch das, was sie an Sylvie so faszinierte. Sie war so anders, als sie selbst und als die meisten Leute, die sie kannte. Es war schwer, in sie hineinzuschauen. Wirklich zu wissen, was in ihr vorging, warum sie tat, was sie tat. Und je mehr Zeit sie mit Sylvie verbrachte, desto weniger schien sie sie zu verstehen, desto rätselhafter erschien sie ihr. Aber vielleicht gehörte das zum Kennenlernen dazu. Zu lernen, dass man jemanden überhaupt nicht kannte. Und sie würde vielleicht nie die Gelegenheit bekommen sie so gut kennen zu lernen wie sie es sich wünschte.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficção GeralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...