69. Kapitel

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Erik saß wie elektrisiert auf seinem Sessel und starrte auf die Bühne, als die ersten Takte von Sibelius' Violinkonzert erklangen. Sylvies Violinkonzert! Da stand sie wie eine lichtumflorte Säule, in ihrem schimmernden türkisen Kleid und spielte, wie er sie schon lange nicht mehr spielen gehört hatte.

Zu Hause war das anders gewesen, in seiner kleinen Wohnung, aber hier ... der mit Menschen gefüllte Saal, das Orchester, Karina. All das schien Sylvie zu beflügeln und ungeahnte Energien in ihr freizusetzen. Es sah aus, als existierte das Rundherum für sie nicht mehr, es gab nur ihre Violine und die Musik. Da mochte sie noch so oft behaupten, ihr Geheimnis seien systematisches Üben und ihre analytischen Fähigkeiten. Aber hier spielte nicht die Rechenmaschine, als die sie sich so gerne darstellte. Das hier kam nicht aus ihrem Hirn, sondern von ganz woanders. Das hörte und spürte er ganz deutlich. Sie spielte, als hätte sie nie etwas anderes getan.

Vor einer halben Stunde waren alle noch hektisch herumgelaufen. Sylvie war angespannt gewesen, wie eine bis knapp vor dem Zerbersten angezogene Feder. Gleichzeitig hatte sie rundweg abgestritten, nervös zu sein. Er war ihr den Nachmittag über aus dem Weg gegangen und hatte sich irgendwo im Hintergrund gehalten, während die anderen mit den Vorbereitungen beschäftigt waren. Jitka war ebenfalls nervös, bei ihr war es eine Art von Nervosität, die ihr dabei half besonders konzentriert zu spielen.

Die Einzige, die vollkommen ruhig schien, war Karina. Sie war völlig in ihrem Konzertmodus, in dem sie alles im Griff hatte und, wo rein gar nichts sie aus der Bahn werfen konnte. Das hatte er schon in Turin bewundert. Mit ihr als Dirigentin zusammen zu arbeiten war die reinste Freude. Sie machte anscheinend irgendwelche Meditationsübungen, die ihr halfen, alles Unnötige auszublenden. Sie machte das auch mit den Anderen. Bevor die Zuschauer eingetroffen waren, hatte sie mit allen zusammen auf der Bühne Lockerungsübungen gemacht und dann hatten sie mit geschlossenen Augen vor sich hin gesummt, selbst Sylvie hatte mitgetan. Es war darum gegangen, ruhig zu werden und auf die anderen zu hören. Karina verstand es, auf diese Art eine  gelassene und konzentrierte Atmosphäre herzustellen, der selbst eine unter Starkstrom stehende Sylvie nichts anhaben konnte. Vielleicht war Sylvie dadurch ja auch etwas ruhiger geworden. Und wenn Karina schon die Hochspannung nicht aus Sylvie rausbekommen konnte, so hatte sie zumindest dafür gesorgt, dass sich die anderen von ihr nicht in den Wahnsinn treiben ließen.

Bis zum furiosen Schluss saß Erik kerzengerade und wagte kaum zu atmen. Er glaubte, das Konzert mittlerweile gut zu kennen. Schließlich hatte er es mit Sylvie geübt, er hatte die Klavierfassung des Orchesterparts für sie gespielt, aber das war nicht zu vergleichen mit der Fülle an Klangfarben, die ein ganzes Orchester bieten konnte.

Nach dem letzten Ton brandete Sylvie donnernder Applaus entgegen und sie verbeugte sich mit einem Lächeln. Sie reichte Karina die Hand, doch diese fiel ihr einfach nur um den Hals und drückte sie, und im Bruchteil einer Sekunde hatte Sylvie ihre Überraschung überwunden und erwiderte die Umarmung lachend. Aber halt, was war das nun? Hatte Karina ihr jetzt tatsächlich einen raschen Kuss auf den Mund gedrückt, oder hatte er sich das jetzt in seinem Taumel nur dazu gedacht? Hinter ihm wurde unverhohlen getuschelt. Karina und Sylvie mussten drei Mal auf die Bühne zurückkommen, ehe der Applaus langsam verebbte.

Alena und Janek, die neben ihm saßen, gratulierten Erik zu seiner fabelhaften Schwester und er war unsagbar stolz auf sie. Während der Pause wurde auf der Bühne umgebaut, der Konzertflügel wurde seitlich vor den Orchesterbereich geschoben und Erik verabschiedete sich für einen Moment von Jitkas Eltern, um hinter die Bühne zu flitzen. Auch er wollte Sylvie umarmen und ihr gratulieren. Er fand sie mit einer Flasche Wasser in der Hand, immer noch etwas angespannt, immerhin hatte sie noch einen Auftritt vor sich. Aber zumindest ließ sie sich einmal kurz von ihm drücken und Karina ebenfalls. Er stammelte irgendwelche nichtssagenden Bemerkungen vor sich hin, da es ihm unmöglich war in Worte zu fassen, was er gerade fühlte.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt