Die Probe war anstrengend gewesen und Jitka fühlte sich ziemlich erledigt, als sie endlich ihre Sachen zusammenpackte. Als erstes fingerte sie ihr Telefon aus der Tasche, um zu sehen, ob Erik ihr endlich geantwortet hatte. Sie wartete schon den ganzen Nachmittag auf eine Nachricht von ihm. Tatsächlich. Aber die Mitteilung fiel nicht so aus, wie sie es erwartet hatte. Er schrieb ihr, dass sie einander vermutlich erst morgen wieder sehen würden, da er mit seiner Schwester unterwegs war. Enttäuscht biss sie sich auf die Unterlippe. Natürlich war es in Ordnung, dass er etwas mit seiner Schwester unternehmen wollte. Aber konnte er das nicht immer? Sie hatten doch nur noch ein paar Tage übrig. Andrerseits konnte sie dann einmal einen gemütlichen Abend mit Karina verbringen. Das hatten sie seit sie hier waren nicht gemacht. Jitka hatte sich auch keine realistischen Chancen auf einen Mädels-Abend mit ihrer Freundin mehr ausgerechnet. Sie war ja ständig mit Sylvie zusammen geklebt. Ohne Erik hätte sie sich hier ganz schön gelangweilt. Doch ohne Erik wäre auch Sylvie nicht nach Turin gekommen.
"Alles klar?", hörte sie auf einmal Jean-Lucs Stimme neben sich. Anscheinend hatte er ihren etwas angesäuerten Gesichtsausdruck bemerkt.
"Natürlich", sagte sie schnell. "Ich bin nur etwas geschlaucht. Und du musst zugeben, die Probe mit dir war ganz schön mühsam", setzte sie dann noch hinzu. Hier wollte er, dass sie schneller spielte, obwohl ihre Finger ohnehin schon wie Ameisen über die Tasten liefen, dort sollte es noch expressiver werden. Mit dem Orchester hatte er sich kaum beschäftigt, immer nur gesagt sie sollten doch leiser spielen, damit Jitka strahlen konnte.
Immerhin sagte man Chopin nach, er sei ein begnadeter Pianist gewesen, aber kein besonders ambitionierter Orchestrierer. Kritiker seiner Klavierkonzerte meinten, der Orchesterpart sei vor allem dazu angelegt, den Pianisten glänzen zu lassen. Das Orchester begleitete und spielte Überleitungen, trat aber kaum als gleichberechtigter Gegenpart zum Klavier auf, wie es zum Beispiel in Eriks Beethoven-Konzert der Fall war. Das Orchester spielte hier auch in kleinerer Besetzung, alles Augenmerk war auf Jitka gerichtet. Die Konzertbesucher am Samstag würden vor allem darauf gespannt sein, die Siegerin des Moskauer Wettbewerbs zu hören. Das fühlte sich gut an, aber auch etwas einschüchternd. Jean-Luc schien jedenfalls bemüht, sie glauben zu lassen, dass sie die Erwartungen bei Weitem übertraf.
Irgendwo in ihrem Hinterstübchen war sie immer noch ein wenig enttäuscht, dass sie bei dieser Gelegenheit nicht mit dem Clara Schumann-Konzert brillieren durfte, das sie extra einstudiert hatte. Und auch, wenn sie mit diesem Copin-Konzert hier mittlerweile sehr vertraut war und sie wusste, dass sie damit richtig auftrumpfen konnte, ertappte sie sich dabei, dieses Konzert einfach weniger zu mögen. Und das arme Konzert konnte gar nichts dafür. Es hatte alles, was man an einem Klavierkonzert lieben konnte, aber es gelang ihr nicht den Schalter in ihrem Hirn umzulegen. Mochten andere das kleinlich und unprofessionell nennen.
"Ich gestehe, ich war vielleicht ein wenig lästig heute", entgegnete Jean-Luc und lächelte so charmant, dass es ihr schwerfiel ihm irgendetwas übel zu nehmen. "Ich habe dich ein wenig fordern wollen, weil ich weiß, dass du mehr kannst. Du willst doch nicht nur richtig gut sein am Samstag, sondern exzellent."
„Ja, schmier mir nur Honig ums Maul, damit ich noch richtig eingebildet werde", entgegnete sie und machte ihre Tasche zu.
„Darf ich dich zur Wiedergutmachung auf ein Getränk einladen?", fragte er. Sie zögerte einen Moment. Eigentlich hatte sie sich schon darauf gefreut mit Karina gemütlich auf dem Balkon zu sitzen. Andrerseits, was war schon dabei, wenn sie etwas später antanzte.
"Also gut, gerne", sagte sie dann. Das nannte man wohl Networking. Es schadete bestimmt nicht, wenn sie außer Karina noch weitere, vielversprechende Jungdirigenten kannte. Und sie hatte es sich in letzter Zeit mit genug Leuten verscherzt.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficción GeneralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...