72. Kapitel - 3. Intermezzo: Russisches Wintermärchen

66 12 0
                                    

„Oh, schau, Mama. Sind das dort Blumen auf dem Baum?", rief Jitka mit leuchtenden Augen und inspizierte einen Zweig des phantasievoll geschmückten Tannenbaums, auf dem große pastellfarbene Stoffblüten prangten. Sie schimmerten und glitzerten, wie von Eis und Schnee bedeckt. Da war zwar wirklich echtes Eis und Schnee, allerdings, wollte man sich, was die Weihnachtsdekoration der Moskauer Straßen und Plätze anging, anscheinend keineswegs lumpen lassen. Alles glitzerte und blinkte, als wären sie von tausenden Sternen und flimmernden Eiszapfen umgeben. Dazwischen rieselten die echten Schneeflocken vom Himmel. Jitka und Alena hatten das Gefühl in einem russischen Wintermärchen gelandet zu sein. Sie beide liebten so etwas und konnten sich gar nicht sattsehen.

Eigentlich waren sie nach Moskau geflogen, weil Jitkas CD mit den Rachmaninoff-Konzerten jetzt erschienen war und sie zur Präsentation unter anderem ein Konzert spielen sollte. Es waren die letzten Termine mit ihrem Agenten, danach erlosch der Vertrag und sie konnte sich endlich einen Neuen suchen.

Aber zwischen den etwas mühsamen offiziellen Terminen blieb genug Zeit für Einkaufsbummel und dafür, die Stadt in ihrer vorweihnachtlichen Pracht zu genießen. Auch, wenn man hier Weihnachten erst am 6. Jänner feierte, war jetzt, Anfang Dezember schon alles geschmückt. Sie trieben sich nicht zu knapp in den verschiedenen Notengeschäften herum, die Karina ihnen schon beim letzten Mal gezeigt hatte. Sie hatte Jitka auch einige Besorgungen aufgetragen. Vor allem Noten und Bücher, und auch Schokolade. Bestimmt fand sie hier auch ein passendes Weihnachtsgeschenk für Karina. Wo sonst wenn nicht hier?

Vielleicht fand sie hier auch eine Kleinigkeit für Sylvie. Wenn sie nur halb so nostalgisch wie Karina war, was ihre Studienzeit in Moskau anging, so freute sie sich bestimmt über ein Mitbringsel. Sie war sich nur nicht sicher, was Sylvie überhaupt gefallen könnte. Sie wusste mit Sicherheit, dass sie eine Abneigung gegen jegliche Art von Kitsch hatte, im Gegensatz zu ihr selbst und Karina, das machte die Sache recht schwierig. Aber wenn jemand wusste, was Sylvie mochte, war das wohl Erik. Sie schickte ihm eine Nachricht und eine gefühlte Ewigkeit später, kam die Antwort, dass Sylvie russischen Tee mochte und diese dunkle Schokolade. Jitka wusste, welche gemeint war, denn Karina war genauso versessen auf die russische Schokolade. Sie selbst konnte das nicht nachvollziehen. Sie fand, dass die einfach nur bitter und langweilig schmeckte.

Für Erik hatte sie auf dem Weihnachtsmarkt schön gemusterte dicke Socken und Handschuhe gefunden. In letzter Zeit schien er ständig zu frieren, da konnte er die sicher gut brauchen. Außerdem wollte sie ihm Noten mitbringen, hatte das Richtige aber noch nicht gefunden. Jedenfalls keinen Tschaikowsky. Vielleicht irgendwas Ausgefallenes. Vielleicht etwas, das sie vierhändig spielen konnten.

Abends im Hotel verschickte sie ihre Fotos und stichwortartigen Erlebnisberichte an Erik und Karina. Karinas begeisterte Antworten kamen oft beinah sofort, zumindest, wenn sie nicht gerade ein Konzert hatte oder mit etwas Anderem beschäftigt war. Bei Erik dauerte es meist bis zum nächsten Vormittag. Sie versuchte, sich nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen. Immerhin waren sie während dieser Woche, die sie hier verbrachte nicht zum Telefonieren verabredet, vielleicht legte er da sein Telefon einfach irgendwohin und vergaß dann einen halben Tag lang, dass er überhaupt eines hatte. Er hatte ihr irgendwann erzählt, dass sich Sylvie da manchmal drüber beschwerte. Und wie Sylvie wollte sie nicht sein. Manchmal schickte er ihr Bilder von den Schwänen auf dem See, um den er immer herumspazierte.

Dem Abend ihres Konzerts im großen Konservatoriumssaal sah Jitka mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie würde froh sein, wenn das Konzert vorbei war. Sie würde an dem Abend zwei Klavierkonzerte von Sergej Rachmaninoff vortragen. Das waren die Konzerte, die man auf CD gepresst hatte. Sie hatte sie davor und danach unzählige Male gespielt. Allerdings waren zwei komplette Klavierkonzerte an einem Abend ungewöhnlich und durchaus anstrengend. Und es hing einiges davon ab.

Je nachdem, wie der Abend von den Musikkritikern aufgenommen, und anschließend in den Medien besprochen würde, wirkte sich das auf die Verkäufe aus. Wenn sich das Album sich gut verkaufte, brachte das vielleicht wieder Anfragen für neue Aufnahmen oder Konzerte. Zudem hätte sie mit einem solchen Erfolg in der Hinterhand eine bessere Verhandlungsbasis für weitere Verträge. Ob es nun um einen neuen Agenten, oder um Konzerte ging.

Wenn sie auf das letzte Jahr zurückblickte, konnte sie nicht unzufrieden sein. Gewiss, sie hatte sich mit dem Agenten zerstritten und vielleicht die wichtigste Zeit nach ihrem Sieg gar nicht richtig nutzen können. Sie hatte keinesfalls den fulminanten Höhenflug und die Weltkarriere gemacht, die sie in ihrer anfänglichen Naivität nach dem Wettbewerbssieg in Stein gemeißelt vor sich gesehen hatte. Jetzt war sie froh, dass es nicht so gekommen war. Sie hatte das oft mit Karina und auch mit ihrer Mutter besprochen. Es war vielleicht gut, dass sie sich die Zeit nehmen konnte, langsam und Schritt für Schritt voranzukommen. In Prag kannte man sie jetzt jedenfalls. Zumindest die Leute, die sich für klassische Musik interessierten und in Konzerte gingen, hatten ihren Namen schon gehört.

Jitka fragte sich immer noch, wie Sylvie das damals gelungen war. Sie war anscheinend aufgestiegen wie ein Komet. Wie hatte sie mit all den Erwartungen umgehen können? Karina meinte, es sei Sylvie sehr zugutegekommen, dass sie bereits Erfahrungen in der russischen Musiklandschaft gesammelt hatte. Dass sie ein wenig Bescheid wusste, wie die Dinge hier liefen. So hatte sie vieles besser einschätzen können. Und sie hatte Glück gehabt, das sagte selbst Karina. Es gehörte immer auch das Glück dazu, zufällig gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. So musste es Sylvie gelungen sein, ihren Sieg optimal zu nutzen, ohne sich dabei verheizen zu lassen. Aber glücklich hatte der Erfolg sie wohl auch nicht gemacht. Sonst hätte sie schließlich nicht damit aufgehört.

„Man darf die Musik nicht betrügen", hatte Erik in einem seiner philosophischen Momente irgendwann mitten in der Nacht gesagt. „Nicht mit der Aussicht auf die Anerkennung, die man vielleicht bekommt. Sonst rächt sie sich und macht einen unglücklich."

Jitka hatte viel über diese Aussage nachgedacht und er hatte vielleicht Recht. Allerdings kam es ihr vor, als hätte sie ein etwas unkomplizierteres Verhältnis zur Musik, als Erik. Auch wenn sie die Musik liebte und sie immerhin einen Großteil ihres Lebens ausmachte, so war ihr Verhältnis dazu vielleicht weniger emotionsbeladen, als bei ihm, und damit auch nicht so fragil. Die Musik war für sie keine Art Ersatzreligion. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, sie könnte sich an ihr rächen. Freunde taten sowas nicht. Aber spätnachts, wenn sie so halbwach nebeneinander im Bett lagen, hatte Erik oft recht seltsame Dinge gesagt, aus denen man nicht richtig schlau wurde. Diese rätselhafte, manchmal ziemlich wunderliche Seite an ihm irritierte und faszinierte sie gleichermaßen.

Als sie schließlich in dem Saal, in dem sie vor nicht einmal einem Jahr ihren großen Sieg erlebt hatte, auf die Bühne trat, war sie für die Leute, die sich Eintrittskarten gekauft hatten, um ihr zuzuhören immer noch die strahlende Siegerin. Sie wussten schließlich kaum etwas von dem, was hinter den Kulissen geschah. Und für die Dauer des Konzerts fühlte sie sich auch selbst wieder als die Siegerin. Auch eine Sylvie hatte gewiss Tiefschläge einstecken müssen. Warum sollte sie also nicht strahlen und es genießen, dass sie den Leuten hier einen schönen Abend bieten konnte. Dass, sie die Leute rausholte aus ihrem Alltag, um sie die Sorgen und Ärgernisse, mit denen sie sich sonst herumschlagen mussten, einfach für ein Weilchen vergessen zu lassen und, um sie ein wenig zu verzaubern. Wer konnte schon von sich behaupten, dass er so etwas konnte. Sie konnte das. Vielleicht war es dieses Gefühl, das ihr an all dem am besten gefiel.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt