15. Kapitel

120 22 4
                                    

Sylvie saß gemütlich an Karinas Schulter gelehnt auf der Balkonbank und streckte ihre Zehen durch das Geländer hinaus in den Regen. Der piemontesische Rotwein schmeckte leicht herb, fast ein wenig bitter. So wie sie Rotwein mochte, süße Weine konnte sie absolut nicht ausstehen. Sie drehte den Kopf ein wenig zu Karina hinüber und fragte sich, ob sie das jetzt unheimlich finden sollte, dass diese sogar beim Wein ihren Geschmack erraten hatte. Hatten sie irgendwann einmal über Wein gesprochen? Vermutlich war es einfach Zufall. Immerhin war es auch Zufall, dass sie jetzt hier mit ihr auf dem Balkon saß. Vermutlich hatte Karina eher geplant, den Wein irgendwann mit Jitka zu trinken.

"Wolltest du immer schon Dirigentin werden?", fragte sie dann. Sie hatte keine Lust über Zufälle nachzudenken. Sie schwenkte das Glas in ihrer Hand hin und her und beobachtete die leichten Schlieren die der Wein bildete.

Karina lächelte, anscheinend etwas amüsiert über diese Frage. Vermutlich bekam sie die nicht zum ersten Mal gestellt. Vielleicht war es auch eine dumme Frage, so als fragte man sie, warum sie Geige spielte, und nicht Oboe oder irgendwas anderes.

"Die Leute tun oft, als wäre das die absonderlichste Idee der Welt", sagte sie, immer noch lächelnd. "Aber die Antwort ist, dass mir das selbst lange nicht eingefallen ist. Nachdem mein Stipendium für das Cellostudium in Moskau nach zwei Jahren vorüber war, kam ich wieder zurück Prag. Da habe ich mir die Frage gestellt, ob ich den Weg, den ich eingeschlagen habe, geradeaus fortsetzen soll, oder welche Richtung mich vielleicht sonst noch so reizen würde. Ich glaube, ich habe mich zuerst aus Trotz anstacheln lassen", lachte sie.

"Ich kam in einer Pause mit einem Burschen aus der Dirigentenklasse ins Gespräch und habe ihn so rein interessehalber gefragt, was man eigentlich können muss, um für so ein Studium genommen zu werden. Er hat gleich ganz arrogant getan und mich wissen lassen, dass ich das gar nicht erst probieren sollte. Obwohl ich das nie vorhatte, bis dahin ... Sie hätten ja einige Frauen im Studiengang, aber es wisse doch jeder, dass es denen unmöglich gelingen konnte die nötige Autorität zu entwickeln. Also das hat er natürlich nicht direkt gesagt, aber ganz deutlich durchklingen lassen. Von einem dieser grauhaarigen Herren hätte ich mir solche Sprüche eher erwartet, aber nicht von so einem jungen Kerl, der vermutlich jünger war als ich selbst ... Jedenfalls hat mich das zuerst geärgert und dann angespornt. Da siehtst du, ich habe vielleicht aus den völlig falschen Gründen angefangen ... ich habe in Erfahrung gebracht, was man für die Aufnahmeprüfung können muss – natürlich immer noch aus Spaß und Trotz und aus Prinzip. Ich habe mich vorbereitet, bin hingegangen ... und naja, dann war ich drinnen. Einfach weil's ging."

Sylvie machte noch einen Schluck von ihrem Rotwein und kicherte in sich hinein.

"Da fragt man sich, ob es dem jungen Mann wirklich draum gin dich als lästige Konkurrentin loszuwerden, oder ob er erreichen wollte, dass du dich erst recht anmeldest. Aber jetzt sag bloß nicht, dass du einfach so aus Trotz das ganze Studium durchgezogen hast."

"Ach nein", antwortete Karina. "Das wäre ganz schön viel Aufwand, nur um ein Exempel zu statuieren. Bei der Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung habe ich immer mehr gemerkt, dass das wirklich etwas für mich ist. Die Musik als Ganzes betrachten, alle Stimmen miteinander in Einklang bringen, herausfinden wie sich der Komponist das Stück wohl gedacht haben könnte. Als Cellistin im Orchester oder meinetwegen auch als Solistin, da hört man immer nur den einen Teil, aus der Ecke in der man selbst sitzt und eines Tages sitzt man im Publikum, oder hört eine Aufnahme und dann merkt man: Ach, so soll das klingen! Ist es dir nicht auch schon oft so gegangen?"

Sylvie nickte eifrig. "Absolut. Vor allem seit ich vieles von dem, was ich früher selbst gespielt habe, eher passiv genieße."

"Weißt du, und das ist es, was mich interessiert. Einen Schritt zurück treten und das große Ganze sehen, und dann umso tiefer wieder eintauchen. Ich möchte nie wieder etwas anderes machen. Und weißt du, was das Schlimme ist?"

Sylvie nahm den Kopf von Karinas Schulter und schaute sie an. Normalerweise sprach die Andere immer sehr ruhig und ganz ohne unnötiges Pathos, doch jetzt flogen ihre Hände durch die Luft, und ihr Oberkörper ging mit.. Als Antwort auf Karinas rhetorische Zwischenfrage hob Sylvie nur leicht die Augenbrauen, sie wollte den Redefluss der anderen nicht unterbrechen.

"Das Schlimme ist, ich wäre von alleine nicht auf die Idee gekommen. Hätte dieser Typ mich nicht provoziert, ich hätte nie die Möglichkeit in Erwägung gezogen. Ich weiß nicht warum, vielleicht dachte ich von vornherein, ich könnte das nicht. Dass man dafür irgendwie besonderes Genie bräuchte. Dabei muss man doch auch hier das Handwerk und die Techniken lernen. Genauso wie wenn man Violine oder Cello oder irgendein anderes Instrument spielt. Ich habe echt erst jemanden gebraucht, der mir sagt nein, du kannst das nicht."

Sylvie lachte. "Das kenn ich nur zu gut. Du kannst froh sein, dass zu mir nie jemand sowas gesagt hat, sonst wäre ich heute auch Dirigentin und würde alles tun, um dich das Fürchten zu lehren!"

"Au ja!", rief Karina, der Gedanke schien ihr zu gefallen. "Das versuch erst einmal. Aber bei diesem Jean-Luc könntest du anfangen."

Sylvie musste erst kurz nachdenken, wen Karina meinte, das musste der Kollege sein, der seinen Kopf in den Proberaum gesteckt hatte.

"Klingt, als könntest du den besonders gut leiden," grinste sie augenzwinkernd

"Einer von diesen klischeehaften Exemplaren, die sich absolut für Gottes Geschenk an die Menschheit halten. Und jetzt scheint er sich einzubilden, dass Jitka nur auf ihn gewartet hat."

"Vielleicht hat sie das ja", gab Sylvie zu bedenken und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. "Vielleicht ist er genau ihr Typ und einen Dirigenten am aufsteigenden Ast, vielleicht fände sie das nicht so schlecht. Und karrieretechnisch wäre das für sie ..."

"Der ist garantiert nicht ihr Typ", unterbrach sie Karina energisch. "Und sie lässt sich von so einem sicher nicht korrumpieren. Manche legen es ihr als Fehler aus, dass sie sich ständig mit Leuten überwirft, die sie voranbringen könnten, aber ich denke, ihr eigener Kopf wird sie am Ende viel weiter bringen ..."

"Erik scheint sie sehr zu mögen," sagte Sylvie nachdenklich. "Und zu seinem eigenen Pech ist er nicht unbedingt derjenige, der in solchen Dingen entschlossen vorprescht. Ich fürchte, er könnte eher einen Rückzieher machen, und das fände ich schade. Ich glaube Jitka tut ihm gut."

"Wenn dem so ist", sagte Karina und zuckte unbekümmert die Schultern, "Dann mach dir mal keine Sorgen, Jitka wird sich garantiert keine Rückzieher bieten lassen."

"Meinst du? Ist sie so wie du?"

"Vielleicht auch ein wenig wie du."

Während Sylvie  überlegte wie das gemeint sein konnte, wischte Karina auf ihrem Smartphone herum. Es sah aus, als hätte sie soeben eine Nachricht erhalten.

"Eine äußerst kryptische Nachricht von Jitka", erklärte Karina. „Sie übernachtet bei Erik. Sie müssen das Gemüse essen, damit die Sonne wieder scheint. Weißt du, was damit gemeint sein könnte?"

Sylvie kicherte. "Ich glaub schon. Á propos Essen, müsste unsere Pizza nicht schon längst da sein. Oder meinst du, der Bote ist uns inzwischen im Regen ersoffen?"

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt