"Was ist heute los mit dir?" Karina stellte sich Erik in den Weg, gerade als dieser sich zu Beginn der Pause in Richtung Hinterbühne verziehen wollte. "So unkonzentriert kenne ich dich sonst nicht."
Einmal hatte er seinen Einsatz verschlafen und immer wieder hatte sie Ungenauigkeiten herausgehört. Vielleicht nur Nuancen, die sonst niemandem aufgefallen wären. Sie wusste doch, dass er es konnte. Vermutlich beherrschte er das Konzert mittlerweile im Schlaf, leider hatte es genauso geklungen. So als sei er dabei mit seinen Gedanken irgendwo im Land der Träume, oder streckenweise tatsächlich eingeschlafen.
"Tut mir leid", sagte er und schaute einen Moment lang betreten zu Boden, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Dann hob er den Kopf und sah sie direkt an. Diesen forschenden Blick hatte er ihr während der Probe schon zugeworfen. Wie eine stumme Frage und sie hatte keine Ahnung, was er wollte. Seine Lippen bewegten sich, so als wollte er tatsächlich etwas sagen, schien aber seine Meinung gleich wieder zu ändern. Er schüttelte nur schnell den Kopf und sagte: "Ist nicht ganz mein Tag. Ich werde versuchen mich nach der Pause besser zu konzentrieren." Dann schlüpfte er davon. Er schien die Vormittagspause heute alleine verbringen zu wollen.
Verwundert blickte sie ihm nach. So sympathisch er ihr war und so sehr sie ihn als Musiker schätzte ... Sie sollte Sylvie wirklich einmal nach einer Gebrauchsanleitung für ihren Bruder fragen. Aber vielleicht war ihre eigene Geduldsspanne heute auch eher enden wollend. Je länger sich die Aussprache mit Sylvie hinauszögerte, desto unrunder fühlte sie sich. Vielleicht war es für sie ebenfalls besser, die Pause alleine zu verbringen und zu versuchen ihre Reserven an Gelassenheit zumindest für die zweite Hälfte der Probe aufzufüllen.
Sie ging in den Park nebenan und setzte sich auf eine von Büschen verborgene Bank, damit niemand von den Musikern auf die Idee kam, sie anzusprechen. Sie schloss die Augen und versuchte sich an einer Meditationsübung. Vermutlich wäre es besser gewesen sich in einem Proberaum an ihrem Cello abzureagieren, aber bis sie das gestimmt hatte, war die Pause schon wieder vorbei.
Die zweite Hälfte lief besser. Karina war bereit zu akzeptieren, dass man auch einmal einen unkonzentrierten Tag haben konnte und Erik schien sich am Riemen zu reißen. Die Einsätze kamen punktgenau, die Dynamik stimmte, er spielte den getragenen, melancholischen Largo Satz so ausdrucksvoll wie eh und je. Fast schien es als käme ihm die Musik von der Stimmung her heute besonders entgegen. Na, hoffentlich hatte das nichts mit Jitka zu tun, dachte Karina. Sie beendeten die Probe mit einigermaßen gelungenen Durchläufen von Satz eins und zwei und sie entließ zufrieden alle in die Mittagspause.
"Siehst du, geht doch", sagte sie augenzwinkernd zu Erik, während die anderen Musiker sich an ihnen vorbei in Richtung Mittagessen bewegten. "Sorry, dass ich dich in der Pause so angepflaumt habe."
Erik zuckte nur mit den Schultern. "War wohl notwendig", sagte er. Zumindest war er dann doch nicht überempfindlich und nachtragend. Sie verstaute den Taktstock in seinem Etui, klappte die Notenmappe zu und dann warf sie den obligatorischen Blick auf ihr Telefon. Erfreut entdeckte sie, dass Sylvie angerufen und ihr eine Sprachnachricht hinterlassen hatte. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, die Nachricht abzuhören, sondern tippte direkt auf Sylvies Namen, um sie zurückzurufen. Sie ließ mehrere Male klingeln, doch Sylvie ging nicht hin. Dann also doch die Nachricht.
'Sie haben eine neue Nachricht.' Natürlich, das weiß ich doch, dachte sie ungeduldig. Da endlich kam Sylvies Stimme und was sie sagte traf Karina wie ein Schlag in den Bauch. Sie klang ruhig und gefasst und so, als hätte sie sich ihre Worte vorher genau überlegt. Doch sie schien zwischendurch vom Plan abzukommen und es kam Karina vor, als hörte ihre Stimme sich um etwa einen Halbton höher an, als sonst. War das nur die Verzerrung durch das Telefon oder ein Zeichen dafür, dass sie überhaupt nicht ruhig und gefasst war. Wie sollte sie auch? Als die Nachricht aus war merkte Karina, dass ihre Unterlippe weh tat, weil sie so fest darauf gebissen hatte und ihre Finger zitterten. Sie kauerte sich auf die Kante ihres Podests und wählte noch einmal die Nummer der Sprachbox, um die Nachricht ein zweites Mal anzuhören. Als könnte sich der Inhalt dadurch ändern. Sie wünschte, sie hätte sich verhört.
"Karina? Wenn du das hörst, bin ich nicht mehr in Turin. Ich habe heute früh einen Anruf aus der Redaktion bekommen, ich soll wegen einer dringenden Angelegenheit nach Irkutsk. Es tut mir leid, dass wir nicht mehr reden konnten. Wir holen das nach, ja?" An dieser Stelle räusperte sie sich. "Ich bin jetzt in Kopenhagen, hole mir gleich mein Visum und dann ... ich weiß nicht, wann ich zurück bin. Vermutlich nicht bis zum Konzert. Ich melde mich, ja? Ich wünsche euch gutes Gelingen am Samstag, in Gedanken bin ich bei euch. Danke für die letzten Tage. Ich küsse dich."
War es Einbildung oder klang Sylvies Stimme gegen Ende hin irgendwie dünner. Karina stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Gut, dass niemand mehr hier war, der sie so sehen konnte. Sie lehnte ihren Kopf seitlich gegen das Pult und versuchte die Nachricht erst einmal sacken zu lassen. Zu realisieren, dass dieser schöne Traum durch den sie die letzten Tage über gesegelt war, nun einfach so vorbei war.
Sylvie hatte sich jedoch nicht einfach so aus ihrem Leben verabschiedet. Nein, so klang das nicht. So schnell würde sie sicher nicht aufgeben. Sie seufzte und dann spürte sie etwas neben sich. Eine Hand legte sich auf ihren Rücken und sie blickte auf. Erik. Er hatte sich wortlos neben sie gesetzt. Er musste nichts sagen. Und sie auch nicht. So saßen sie einfach eine Weile schweigend nebeneinander.
(Wäre das hier eine Fernsehserie, dann wäre das hier das Ende der ersten Staffel. Danke fürs bisherige Lesen, sowie für alle Kommentare und Sternchen. Das motiviert mich sehr. Wenn jemand Lust hat an dieser Stelle Kommentare, Feedback oder Spekulationen, wie es denn weitergehen könnte, oder sonstiges loszulassen, dann wäre das jetzt eine geeignete Gelegenheit. Sowas lese ich immer gerne, obwohl ich natürlich nicht verraten werde was da womöglich kommen wird. Dazu gibts dann die "2. Staffel", die nahtlos am Freitag mit dem 2. Intermezzo anschließt.)
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficção GeralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...