54. Kapitel

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Am nächsten Vormittag trennten sich Eriks und Jitkas Wege für einige Stunden. Am Nachmittag war die Kaffeejause bei Jitkas Eltern geplant, weshalb sie noch ein paar Besorgungen machen und beim Vorbereiten helfen wollte. Erik hatte betont, sie sollten sich wegen ihm keine Umstände machen, und Jitka hatte ihm versichert, das würde sicher nicht geschehen und er solle sich deswegen keine Gedanken machen. Für den Abend hatte Karina Karten für eine Opernvorstellung im Ständetheater organisiert, man könne sich schließlich die Chance nicht entgehen lassen Don Giovanni am Schauplatz der Uraufführung mit Originalklangorchester zu erleben. Dagegen kam auch Sylvie nicht an, die sonst nicht unbedingt eine passionierte Opernliebhaberin war.

Sie behauptete immer, gute Musik habe keine albernen Räubergeschichten nötig. Er selbst mochte diese Räubergeschichten aber ganz gerne, die gehörten einfach dazu. Abgesehen davon, dass es der Musik ganz neue Dimensionen eröffnete, wenn es um Menschliches ging, um Ideen und Emotionen, die transportiert werden sollten. Darüber konnte man mit Sylvie natürlich stundenlang diskutieren, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Sie wollte es eben nicht, Ideen und Emotionen vorgegeben zu bekommen, wie sie sagte. Und der Gedanke, sich in eine Geschichte hineinfallen und mitreißen zu lassen, war ihr vollkommen fremd. Zumindest behauptete sie das.

Erik war froh vor dem Ganzen noch ein paar ruhige Stunden für sich zu haben. Nach den letzten zwei Tagen fühlte er sich irgendwie ausgelaugt, und langsam war er bereit, das als Dauerzustand zu akzeptieren. So richtig energiegeladen hatte er sich schließlich schon seit längerem nicht mehr gefühlt. Außerdem hatte er, seit er von zu Hause abgereist war, keine Zeit mehr alleine am Klavier verbracht und das fehlte ihm bereits sehr. Früher war da immer das schlechte Gewissen mit dabei gewesen, wenn er einmal einen Tag nicht zum Üben gekommen war. Aber jetzt musste er keine Auftritte mehr vorbereiten, und es machte im Grunde keinen großen Unterschied mehr, ob er übte oder nicht. Er fühlte sich einfach nur unrund, ihm fehlte etwas, wenn er nicht spielte. Andere Leute zogen es vielleicht vor zu meditieren, um ihre innere Mitte zu finden, oder soetwas. Er spielte lieber Fugen.

Es hielt ihn vom Nachdenken ab. Und im Moment auch davor, sich darüber zu wundern, dass Sylvie sich seit gestern Abend nicht gemeldet hatte. Zuerst hatte sie alle paar Stunden versucht unter irgendeinem mehr oder weniger diplomatischen Vorwand ein Lebenszeichen von ihm zu erhalten und jetzt meldete sie sich gar nicht. Entweder es war Karina gelungen sie hoffnungslos mit Absinth abzufüllen, oder sie hatte vielleicht wirklich eingesehen, dass sie keinen Grund hatte, sich ständig Gedanken zu machen. Fast war er versucht, sich selbst bei ihr zu melden, aber das verwarf er gleich wieder. Er wollte jetzt bestimmt nicht selbst mit solchen Spielchen anfangen. Und falls nun Sylvie irgendetwas Schlimmes passiert sein sollte, dann würde er doch bestimmt sofort von Karina hören, was los war. Trotzdem ließ ihm das keine Ruhe und er ertappte sich immer wieder dabei. Vielleicht sollte er nach der gestrigen Geschichte einfach einmal mit ihr reden.

Das Treffen mit Jitkas Eltern bot vielleicht mehr Anlass, unruhig zu werden. Doch es machte ihn weniger nervös, als er befürchtet hatte. Jitka versicherte ihm, dass er bei ihrer Mutter schon seit Moskau einen Stein im Brett hatte. Dort war er ihr angeblich positiv aufgefallen, was er sich nicht ganz vorstellen konnte, aber Jitka wollte ihm natürlich Mut machen. Zum ersten Mal die Eltern der Freundin zu treffen war immer eine komische Situation. Doch bei Jitkas Eltern hatte er gar nicht viele Bedenken, sie waren schließlich auch Musiker. Ihre Mutter spielte ebenfalls Klavier, ihr Vater war Klarinettist beim Prager Radiosymphonieorchester, da hatte man Gesprächsthemen und niemand würde auf die Idee kommen mit ihm Dänemarks Wirtschaftsleistung oder Ähnliches diskutieren zu wollen, wie es ihm bei Lindas Eltern passiert war.

Lindas Vater war Wirtschaftsprofessor an der Universität von Uppsala und sie hatte Erik später versichert, dass er ihn gewiss nicht hatte auflaufen lassen wollen, sondern dass er einfach ein Fachidiot war, bei dem andere Themen so gut wie nicht vorkamen. Das hatte die Konversation bei Schwiegerelternbesuchen nicht vereinfacht. Bei Jitkas Eltern würde er das Problem nicht haben. Für sie galt es vermutlich als Pluspunkt, dass er ebenfalls Musiker war. Aber bestimmt wünschten sie sich für ihre Tochter eher jemanden, der nicht hunderte Kilometer weit weg wohnte und, der gesund war, nicht ständig von einer Katastrophe in die nächste schlitterte. Jemanden der richtig für Jitka da sein konnte. Natürlich bemühte er sich, so gut er konnte, aber er wusste nicht, ob das ausreichte.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt