Beide wünschten Jitka einen guten Morgen. Karina mit Küsschen links und rechts, Sylvie mit einem Blick auf die Uhr. Jitka tat, als bemerkte sie es nicht. Sie warf ihren roten Mantel über einen der Sessel und setzte sich sofort an den Flügel. Sie trank einen Schluck Wasser aus ihrer mitgebrachten Flasche und begann sich dann gewohnheitsmäßig mit ein paar schnellen Tonleitern einzuspielen. Währenddessen stand Sylvie daneben, die Violine in der Hand und beobachtete sie.
"Fangen wir an?", fragte sie. Jitka warf Karina, die sich etwas abseits einen Sessel auf die Bühne gestellt hatte, einen Blick zu und diese nickte. Normalerweise begann Karina solche Proben, indem sie einige Atemübungen oder Achtsamkeitsrituale mit den Musikern durchging. Das half, um den Alltag draußen zu lassen, sich zu konzentrieren und, sich auf die Anderen einzustellen. Aber wenn Sylvie dabei war, dann war natürlich alles anders. Vermutlich hatte Karina irgendwann festgestellt, dass Sylvie von solchen Übungen wenig hielt, und das konnte Jitka sich gut vorstellen.
"Was nehmen wir zuerst?", fragte sie.
"Elegie?", schlug Sylvie vor.
Jitka nickte. "In Ordnung." Sie bemerkte, dass Sylvie kein Notenpult vor sich stehen hatte. Wenn sie die Stücke wirklich so oft geübt hatte, wie Erik sagte, wäre es auch ein Wunder gewesen, wenn sie nicht alles auswendig konnte. Jitka beherrschte die drei Stücke sowieso. Nur Karina hatte die Noten aufgeschlagen auf ihren Knien liegen. Irgendjemand musste ja überprüfen, dass sie auch wirklich das spielten, was dort stand.
"Soll ich euch das Tempo vorgeben?", fragte sie.
"Nein, danke. Das mache ich schon", sagte Sylvie. Deswegen hatte sie sich die Elegie ausgesucht. Das war das Einzige, in dem die ersten Takte nur der Violine gehörten. Das Klavier schlich sich nach und nach ganz sachte dazu. Das bedeutete auch, dass die Violine theoretisch das Tempo vorgeben konnte. Wenn Sylvie da so viel Wert drauf legte. Man hätte sich auch vorher auf etwas einigen können.
Als Sylvie zu spielen begann, musste Jitka zumindest anerkennen, was Karina von ihr als Violinistin hielt. Ihr Instrument hatte einen wunderbar, strahlenden Klang. Und Sylvie wusste ganz genau, was sie tat. Alles andere hätte Jitka auch sehr gewundert. Sylvie mochte jahrelang nicht aufgetreten sein, doch sie würde sich nie nachsagen lassen, sie sei zur Dilettantin verkommen.
Jitka setzte mit halb geschlossenen Augen ihre leichten Akkorde zwischen Sylvies getragen schwingende Töne. Aber etwas stimmte nicht ... sie erreichten die Stelle, an der das Klavier ein paar Solo-Takte hatte, an der sich der bis dahin verträumt, schwärmerische Charakter des Stücks zu einem etwas dramatischerem Forte aufbaute, an dessen Höhepunkt die Violine wieder einsetzte. Doch Jitka war noch unzufrieden. Sonst gelang es ihr immer, diese sich langsam intensivierende Stimmung atmosphärisch aufzubauen. Solche Stellen lagen ihr normalerweise besonders. Aber heute ... und das war's, genau ...! Sie hörte auf zu spielen. Auch Sylvie brach ab und sah sie verwundert an.
"Was ist jetzt?", fragte sie.
"Wir sind zu schnell", sagte Jitka.
"Unsinn", erwiderte Sylvie kopfschüttelnd. "Das gehört so. "
"Ich kann so unmöglich die Stimmung aufbauen."
"Kannst du nicht?", Sylvie legte den Kopf schief. "Normalerweise klappt das mit etwas mehr Zug viel besser. Vielleicht zeigt dir Erik, wie das richtig geht. Er hat das jedes Mal ohne Probleme hinbekommen."
Jitka ballte unter der Klaviatur ihre Hände zu Fäusten und blickte hilfesuchend zu Karina hinüber, die nun aufstand und zu ihnen kam.
"Vielleicht wollt ihr es einmal mit einem Tempo dazwischen probieren."
"Es gibt kein Tempo dazwischen ...", begann Jitka zu protestieren, riss sich aber zusammen, als Karina ihr einen mahnenden Blick zuwarf. Das war so typisch! Sylvie hatte sie mit ihrer Violine so bezirzt, dass sie sich nun aufführen konnte wie ein Trampeltier. Diese Probe versprach äußerst mühsam zu werden.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
General FictionManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...