8. Kapitel

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Sylvie fühlte sich unbeschwert und mindestens zehn Jahre jünger, als sie mit Karina im Zickzack durch die Straßen von Turin lief. Natürlich, das war das sorglose Leben, das man im Urlaub führte. Weit weg von zu Hause vom Alltag und der Arbeit. Sie musste an nichts denken und konnte einfach so in den Tag hinein leben. Wann hatte sie das zuletzt gemacht? Hatte sie das je zuvor so gemacht? Ein Urlaub ohne Checklisten und To-do-Listen? Sie hatte natürlich auch diesmal, ganz nach Gewohnheit, vorher ihren Reiseführer und diverse Internetseiten genau studiert. Sie hatte sich Sehenswürdigkeiten und Restauranttipps aufgeschrieben. Aber nun war sie hier und all das war ihr egal. Karina hatte etwas in ihr zum Vorschein gebracht, das sie vielleicht vor zehn Jahren einmal gewesen war. Damals in einem anderen Leben. Sie hatte das nicht geplant und nicht gewollt, doch nun ließ sie es einfach geschehen.

"Du hast nie aufgehört Musikerin zu sein, stimmts?", fragte Karina und fixierte sie mit ihren grauen Augen, als könnte sie in sie hineinschauen. Sylvie wehrte sich nicht dagegen.

"Nein", sagte sie. "Aber ich bin nicht nur das, ich wollte niemals nur das sein."

"Vielleicht ist deine Persönlichkeit nicht vereinbar mit dem, was die Leute in dir sehen wollen. Als Musikerin", sagte Karina, während sie unter den beleuchteten Arkaden in Richtung Fluss schlenderten. „Man will uns weismachen, manche Leute wurden für die Musik geboren. Dabei ist die Musik ein Teil von uns, nicht umgekehrt."

Sylvie schüttelte den Kopf. "Das wird mir zu philosophisch", lachte sie. "Ich will einfach ich sein. Aber es ist nervenschonender, wenn man sich eine Schublade sucht, in der man es sich dann bequem macht. Vielleicht habe ich das auch getan. Aber der Tag hat nicht genügend Stunden, damit ich in alle Schubladen reinhüpfen kann, in denen ich sein möchte. Ich liebe meine Arbeit, ich spiele gerne Geige, die großen Konzertsäle waren schön, aber ich kann ohne sie leben. Ich habe nicht mehr die Zeit, um jeden Tag stundenlang zu üben. Das was du damals von mir gehört hast, die CDs, die nach dem Wettbewerb aufgenommen wurden, das alles geschah zu einer Zeit, als ich den ganzen Tag kaum etwas anderes gemacht habe als zu üben. Das Niveau kann ich heute nicht mehr halten."

"Du spielst nur noch für dich selbst?", fragte Karina mit forschendem Blick. Sie hatten das Thema in den Nachrichten, die sie einander geschrieben hatten immer wieder einmal angeschnitten. Aber da war es leichter gewesen auszuweichen.

"Ich studiere jedes Jahr zu Weihnachten mit Erik etwas ein, das wir der Familie vorspielen. Obwohl unsere Mutter am Liebsten gar nichts neues hören würde. Immer wieder das Ständchen von Schubert und sie ist glücklich. Hie und da spiele ich, wenn es um einen wohltätigen Zweck geht. Aber auch das immer seltener. Die Leute tuscheln hinter meinem Rücken. 'Na, aus der ist auch nix geworden.' Keinem kommt auch nur für einen Moment in den Sinn, dass das meine freie Entscheidung war. So viele denken, dass ich nicht mehr im Musikbetrieb mitmischen kann doch nur damit zu tun haben, dass ich 'versagt' habe."

"Das ist immerhin schon oft so geschehen", gab Karina zu bedenken. Natürlich gab es da viele tragische Beispiele. Und solche, die weniger tragisch waren, sondern einfach nur pragmatisch. Aber tragische Schicksale und grandioses Scheitern boten mehr Gesprächsstoff.

"Nimms mir nicht übel", sagte Sylvie dann. "Viele Musiker kriegen es in den falschen Hals, wenn ich das sage. Und andere Leute verstehen es oft ebenso wenig. Irgendwann kam der Moment, in dem ich mich gefragt habe, warum ich das alles so wichtig nehme. Im Musikbetrieb nehmen viele sich unglaublich wichtig. Schau dir manche deiner Dirigentenkollegen an. Als würde die Welt ohne sie aufhören sich zu drehen. Für den Kartenverkauf an manchen Opernhäusern oder Festivals mag das zutreffen, aber in der echten Welt da draußen spielt es keine Rolle, wer in irgendeinem Konzertsaal das hohe C vergeigt. Das was ich jetzt mache, hat für mich mehr mit dem echten Leben zu tun. Verstehst du? Leute informieren, damit sie sich ihr eigenes Bild machen können. Das finde ich sehr lohnend."

Karina runzelte die Stirn. Es war der Gesichtsausdruck, den Sylvie erwartet hatte. Den sie so oft bekam, wenn sie darüber sprach. Meist vermied sie das Thema deswegen. Aber Karina gegenüber wollte sie ganz ehrlich sein. Sie hatten einander während der letzten Monate so einiges anvertraut und jetzt war es ihr aus irgendeinem Grund wichtig, dass Karina sie verstand. Vielleicht konnte sie es jetzt nicht. Aber sie wünschte sich ihr Verständnis.

"Findest du das wirklich?", fragte Karina und klang dabei sehr skeptisch. „Dass man vergleichen sollte, was relevanter ist? Politik oder Musik?"

"Damals, mit fünfundzwanzig habe ich so gedacht. Ein wenig zu schwarz-weiß vielleicht. Ich stand im tief dekolletierten Abendkleid mitten unter diesen Menschen, die dachten sie und ihr Instrument seien der Nabel der Welt und habe gleichzeitig gesehen, dass es in der Welt auch noch um andere Dinge geht. Irgendwann konnte ich diese Leute einfach nicht mehr ernst nehmen."

Karina grinste. "Oje, hast du das jemals deinem Bruder gesagt?"

"Natürlich nicht. Nicht so. Er würde das nicht verstehen. Das alles war meine Entscheidung, und die gilt nur für mich. Jeder muss seine eigenen Entscheidungen treffen und selbst wissen wie er am Besten glücklich wird. Es ist ganz gut, wenn man nicht hunderttausend Interessen hat, zwischen denen man sich ständig entscheiden muss. Das ist ganz schön anstregend."

"Könntest du dir denn vorstellen noch einmal deine Meinung zu ändern?" Sie spürte Karinas Hand auf ihrem Arm.

"Wie? Du meinst, ob ich vielleicht doch irgendwann wieder auf Musik umschwenke?" Sie schüttelte heftig den Kopf. "Wer weiß, was noch alles kommt, aber nein. Und wenn dann bestimmt nicht als Solistin. Vielleicht irgendwas eigenes auf die Beine stellen, aber ... nein, ich denke nicht."

"Hm ...", machte Karina nur und Sylvie fragte sich, was wohl gerade in ihr vorging. Eine Weile lang gingen sie schweigend nebeneinander her. Sylvie wusste nicht mehr genau, wo sie waren. Sie hatte versucht, sich den Stadtplan so gut einzuprägen wie sie konnte, aber jetzt wusste sie nur mehr, dass sie in einem der Parks irgendwo beim Fluss gelandet waren. Der Weg war beleuchtet und aus den dunklen Ecken wehte ihnen hier und dort der verräterische Geruch von Gras rauchenden Leuten entgegen, der um diese Jahreszeit wohl in keiner Stadt der Welt vermeidbar war.

"Warst du sehr genervt, als ich dich damals angesprochen habe?" fragte Karina. Sylvie konnte Karinas Gesicht nicht sehen, doch in ihrer Stimme lag ein verschmitztes Lächeln.

"Kann man so sagen", gab Sylvie zurück. Ebenfalls lächelnd, aber zu dem Zeitpunkt, war ein Fangirl, das sie unbedingt als grandiose Violinistin sehen wollte, das Letzte gewesen, das sie gebrauchen hatte können.

"Du warst auch ganz schön arrogant", sagte Karina darauf.

"Was hat's mir genützt?", fragte Sylvie zurück.

"Du bist hier und hast nicht einmal was dagegen mit mir durch den dunklen Park zu schlendern. Nein, hat dir überhaupt nichts genützt."

Sylvie lächelte in sich hinein. Sie war sehr froh, dass Karina sich trotzdem dazu durchgerungen hatte mit ihr Kontakt aufzunehmen. Wenn nicht, dann wäre sie heute nicht hier in Turin. Weder sie noch Erik und sie hatte das Gefühl, für sie und ihren Bruder war das hier genau das, was sie gebraucht hatten. Sie spürte plötzlich Karinas Hand in ihrer. Für einen kurzen Moment wunderte sie sich, aber alles fühlte sich ganz natürlich an in dieser magischen Nacht in Turin. Hier zwischen Bäumen, Glühwürmchen und schwach leuchtenden Parklaternen, das Glimmern und Brummen der Großstadt irgendwo im Hintergrund. Sie konnte nicht anders, als sich einzugestehen wie gut ihr das alles tat. Sie war dabei sich völlig fallen zu lassen, nur im Moment zu leben, und das passierte selten. "Wenn ich dir eine Violine organisiere ...", sie spürte Karinas Hand auf ihrer Schulter. "... wollen wir nur so zum Spaß? Es gibt wunderbare Duos für Violine und Cello, Vivaldi oder Schostakovich oder Bach, such dir was aus ..."

Sylvie fühlte sich gerade nicht imstande irgendwas zu entscheiden und sie nickte nur. Das sollte wohl alles so sein.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt