„Sie wird nicht aufwachen", sagte eine leise Stimme. Die beiden Jungen zucken zusammen. Harry sah ihn als Erstes. Da stand er. Der große, in Slytherinroben gekleidete Junge mit dem rabenschwarzen Haar stand an die Säule gelehnt und musterte ihn. Er sah irgendwie seltsam aus. Verschwommen, als ob er nicht ganz da wäre.
„Tom? Tom Riddle?", fragte Harry ungläubig.
Er nickte.
„Was meinst du damit, sie wird nicht aufwachen?", fragte Weasley entsetzt.
„Sie ist nicht tot, wenn du das fragst. Noch nicht", hauchte der Schatten.
Riddle war vor fünfzig Jahren in Hogwarts gewesen und doch stand er als 16-Jähriger Junge vor ihm. Er sah auch nicht aus, wie ein Geist. Kein Zauber, von dem Harry jemals gehört hatte, konnte so etwas vollbringen.
„Was bist du?", fragte Harry misstrauisch.
„Eine Erinnerung. Fünfzig Jahre in einem Tagebuch aufbewahrt."
Neben der Statue lag der kleine, schwarze Taschenkalender, den Harry wenige Monate zuvor noch in seinem Besitz gehabt hatte. Langsam setzten sich die Puzzleteile vor Harrys geistigem Auge zusammen. Die Angriffe hatten im Oktober begonnen, doch ganz plötzlich aufgehört. Dann musste er an Kundalinis Geschichte denken. Ein seltsamer Junge hatte sie verzaubert, nachdem Ginny in den Jungenschlafsaal eingebrochen war um das Tagebuch zu stehlen. Kurz darauf hatten sich die Angriffe fortgesetzt. Eine grausige Erkenntnis traf ihn plötzlich.
„Du warst es... du bist es die ganze Zeit gewesen!", rief er. „Weasley! Hol deine Schwester und nimm die Beine in die Hand!"
Allerdings war Riddle schneller gewesen. Er hatte sich den Zauberstab von Weasley geschnappt.
„Was ist hier los?", fragte dieser, zitternd an seine Schwester geklammert.
Riddle schritt langsam auf Harry zu. Er hatte ein finsteres Lächeln aufgesetzt.
„Was hast du mit Ginny gemacht?", fragte Harry, in der Hoffnung, ihn lange genug abzulenken, um sich einen Plan überlegen zu können.
„Nun, das ist eine ziemlich interessante Frage", sagte Riddle vergnügt. „Und eine ziemlich lange Geschichte. Ich denke der eigentliche Grund, warum Ginny hier liegt, ist, dass sie ihr Herz ausgeschüttet hat und sie einem unsichtbaren Fremden anvertraut hat."
„Dein Tagebuch", stellte Harry fest.
„Kluger Junge. Die kleine Ginny hat Monat für Monat darin geschrieben und mir all ihre jämmerlichen Sorgen und ihr Herzeleid anvertraut. Wie sie sich entschlossen hat, nach Slytherin zu gehen, wegen eines Jungen. Wie sie den Hut überzeugt hat, sie nach Slytherin zu stecken. Wie ihre Brüder sie triezen, weil sie nach Slytherin gekommen ist. Wie niemand im neuen Haus mit ihr spricht und dass sie nicht glaubt, der große, berühmte Harry Potter sie jemals mögen könnte."
Riddle kam immer näher. Sein Blick hatte etwas Hungriges.
„Es war langweilig. Doch ich war geduldig. Und Ginny hat mich geliebt. ‚Keiner versteht mich wie du Tom', ‚du bist mein einziger Freund Tom', lächerlich!", sagte Tom und lachte auf.
„Du Monster, was hast du mit meiner Schwester gemacht!", rief Weasley. Weasley zitterte am ganzen Körper - Harry war nicht sicher, ob aus Angst oder Wut. Tom wandte sich nur um und rief: „Silencio!"
Weasley sah nun aus, wie aus einem Fernsehfilm, den man auf Stumm geschalten hatte.
„Ich darf durchaus von mir behaupten, dass ich schon immer jene bezaubern konnte, die ich brauchte. Und so hat Ginny mir ihr Herz ausgeschüttet - immer mehr von ihrer Seele gegeben. Ich wurde mächtig. Immer mächtiger, bis ich es schaffte, ihr einen kleinen Teil meiner Seele einzuflößen!"
Harry wurde ganz kalt. „Was hast du getan?"
„Hast du es noch nicht erraten Harry Potter? Ginny Weasley hat die Kammer geöffnet. Sie hat die Schulhähne erwürgt und Drohungen an die Wände geschmiert. Sie hat den Basilisken auf die drei Schlammblüter, den Halbriesen und den Squib gehetzt."
„Du hast sie benutzt", sagte Harry und sah zu dem kleinen Slytherinmädchen und all dem Leid, das der Schule erspart geblieben wäre, hätte sie nur mit jemanden gesprochen. Weasley hingegen war hochrot im Gesicht geworden und sah aus, als würde er Tom die wüstesten Beschimpfungen an den Kopf werfen, würde nicht der Schweigezauber auf ihm liegen.
„Ja", sagte Riddle gelassen. „Sie wusste nicht, was sie tut. Zumindest am Anfang. Es hat lange gedauert, bis Ginny aufgehört hat, dem Tagebuch zu vertrauen. Dann ist sie es losgeworden und siehe da, du hast mich gefunden! Wie sehr es mich gefreut hat, dass von allen Menschen es ausgerechnet du warst, der mich gefunden hat. Der Mensch, den ich so unbedingt treffen wollte..."
„Aber warum? Was willst du von mir?", fragte Harry, während er langsam Wut in sich hochsteigen spürte.
„Deine Vergangenheit... eine wirklich faszinierende Geschichte. Ginny hat mir, nachdem ich sie unter meine Kontrolle gebracht hatte, die Macht gegeben, dem Tagebuch zu entkommen und seither warte ich auf dich. Ich habe ein paar Fragen an dich."
Harry konnte es nicht fassen. Ein Wahnsinniger musste vor ihm stehen.
„Was für Fragen?", sagte Harry scharf.
„Nun", sagte Riddle vergnügt lächelnd, „Wie kommt es, dass du, ein magerer Junge ohne jegliches außergewöhnliches magisches Talent, es geschafft hast, den größten Zauberer aller Zeiten zu besiegen. Wie konntest du mit nichts weiter als einer Narbe davonkommen, während Lord Voldemorts Kräfte zerstört wurden?"
In seine Augen trat jetzt ein merkwürdiges rotes Leuchten.
„Was schert es dich, wie ich überlebte. Der Dunkle Lord kam nach deiner Zeit!", sagte Harry entschieden.
„Voldemort", sagte Riddle sanft, „ist meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft."
Er schwang Lockharts Zauberstab und schrieb drei einfache Wörter in die Luft.
„Tom Vorlost Riddle"
Mit einem Schwung des Zauberstabs vertauschten die Buchstaben ihre Plätze.
„Ist Lord Voldemort"
„Denkst du, ich wollte für immer den Namen meines wertlosen Muggelvaters tragen? Nein Harry. Ich erfand mir einen Namen, von dem ich wusste, dass alle Zauberer Angst haben würden, ihn auszusprechen, wenn ich erst der größte Zauberer der Welt sein würde", sagte Tom. Er hatte einen fanatischen Ausdruck aufgesetzt. Weasley hingegen hatte plötzlich einen so entsetzten Blick im Gesicht, das Harry lachen musste.
„Was ist daran bitte so komisch?!", fragte Riddle mit Wahnsinn in der Stimme.
Harry konnte nicht anders. Vor ihm stand der Waisenjunge Riddle, der später so viel Schreckliches getan hatte, so viele Menschen getötet hatte, sich selbst für den größten Zauberer aller Zeiten hielt und alles, was ihn interessierte, war ein 12-Jähriger Junge.
„Alle fürchten dich, Tom. Alle denken, dass du eine Art unbesiegbares Monster bist. Siehst du nicht die Ironie? Du hältst dich für den größten Magier aller Zeiten und doch war ich es, der dich nicht einmal, sondern zweimal besiegt hat."
Riddle funkelte ihn wütend an, doch Harry nutzte diese Wut als Ablenkung. Langsam, während er immer weiter sprach, näherte er sich den Weasleys.
„Einmal als kleines Baby und ein weiteres mal, als ich gerade ein, wie du es nanntest, gewöhnlicher Erstklässler war. All das nur, weil du meine Mutter getötet hast, weil sie sich für mich geopfert hat. Sie hat dich besiegt. Ich habe dich besiegt, Tom. Du bist nicht der größte Zauberer aller Zeiten. Du bist nichts weiter, als ein wahnsinniger Mörder!", sagte Harry, wobei er nicht wusste, woher er plötzlich diesen Mut hatte. Riddles Lächeln war verschwunden.
„Nun, Harry Potter. Wir werden sehen, ob du mir ein weiteres Mal entkommen kannst, wenn deine dreckige Schlammblutmutter nicht da ist, um sich für dich zu opfern."
Dann trat Riddle auf die Statue zu und sagte: „Sprich zu mir, Slytherin, größter der Vier von Hogwarts!"
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Wege eines Slytherins
FantasyHarry und Draco begegnen sich an Harrys 11. Geburtstag in der Winkelgasse. Draco ist der Erste in Harrys Alter, der nett zu ihm ist. Und so ist es Draco, der Harry in die Welt der Magie einführt, anstatt von Ron Weasley. Wie ändert sich die Geschich...