Kapitel 74: Der Traum

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In der darauffolgenden Nacht konnte Harry nicht schlafen. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Crouch. Er hatte eindeutig unter einem Zauber gestanden, keine Frage. Doch war das der Beweis? War er es gewesen, der Harrys Namen in den Feuerkelch geworfen hatte? Wenn ja, dann musste es noch jemanden geben, der im Hintergrund die Fäden zog. Aus seinen Träumen in denen er in die Gedanken des Dunklen Lords eingetaucht war, wusste er, dass Wurmschwanz sicher nicht in der Lage war, einen solchen Zauber allein auszuführen.

Als Harry am Morgen die Sonne langsam aufgehen sah, wurde ihm klar, dass er keinen Schlaf mehr finden würde. Er zog sich also an und ging zum Frühstück. Seine Laune hob sich nicht unbedingt, als er auf seinen Stundenplan sah. Zuerst Verteidigung gegen die Dunklen Künste und dann Pflege Magischer Geschöpfe, nur um sich am Nachmittag seinen Tod vorhersagen zu lassen.
Der Vormittag lief nicht besonders gut. In Verteidigung gegen die Dunklen Künste scheiterte Harry am Schildzauber, den er normalerweise schon beherrschte und in Pflege magischer Geschöpfe ließ Harry einen der Niffler entkommen.
Daphne und Draco warfen ihm beide besorgte Blicke zu, als Harry über dem Mittagessen kurz einnickte. Als sie schließlich nach oben gingen, um jeweils ihre Wahlfächer zu besuchen, bemerkte Harry kaum, dass Draco und Daphne miteinander flüsterten.
Sie stiegen zum Turm hinauf, als Daphne sich räusperte.
„Harry... willst du mir nicht erzählen, was los mit dir ist?", fragte Daphne.
„Es ist alles in Ordnung. Die letzte Aufgabe macht mich nur nervös", log Harry.
Dann zog er die Falltür zum Klassenzimmer auf und kletterte die Stufen hinauf. In dem matt erleuchteten Zimmer herrschte brütende Hitze. Die schwer parfümierten Rauchschwaden aus dem Kamin machten alles noch unerträglicher. Harry wurde ganz schwummrig im Kopf und er ging hinüber zu einem der verhangenen Fenster. Als Trelawney gerade nicht hinsah öffnete er das Fenster vorsichtig. Eine sanfte Brise umspielte jetzt sein Gesicht. Es war unendlich angenehm.
„Meine Lieben", begann Professor Trelawney, setzte sich in den Lehnstuhl vor der Klasse, „wir haben unsere Arbeiten zur Weisheit der Planeten fast abgeschlossen. Heute jedoch bietet sich eine exzellente Gelegenheit, die Wirkungen des Mars zu studieren, denn gegenwärtig steht er in höchst interessanter Konstellation. Wenn ihr bitte alle hierher schauen würdet, ich dämpfe das Licht."
Sie schwang ihren Zauberstab und das Licht erlosch. Die einzige Lichtquelle war nun das Feuer im Kamin. Sie zeigte ihnen ein Modell des Sonnensystems und begann zu reden. Die schwer parfümierten Schwaden waberten über ihn hinweg und die Brise vom Fenster her kühlte ein wenig sein Gesicht. Irgendwo hinter dem Vorhang hörte er ein Insekt leise summen. Seine Lider wurden schwer...

Voldemort saß im gleichen Lehnstuhl wie beim letzten Mal. Er war unruhig. Unter ihm zitterte der Feigling im Staub. Angeekelt blickte er seinen Diener an. Es war doch nur ein kleiner Folterfluch gewesen. Er sollte sich nicht so anstellen.
„Gibt es schon Nachrichten?", fragte Voldemort mit kalter Stimme. Sein Diener wimmerte vor sich hin. Er war von Idioten umgeben.
„Nein, mein Lord", winselte Wurmschwanz.
Nagini zischelte neben ihm mit ihrer Zunge.
„Ich habe Hunger, Meister", zischte sie.
Du wirst bald etwas zu fressen bekommen, meine Schöne. Sehr bald, falls unser treuer Diener uns nicht bald schreibt."
Wurmschwanz winselte erneut, als er Voldemorts zischen hörte. Oh ja, seine Fähigkeit, mit Schlangen zu sprechen, war seinen Anhängern nie geheuer gewesen, das wusste er. Sollte er winseln. Er hatte es nicht besser verdient. Alles war gut gelaufen, bis es dieser Schwachkopf vermasselt hatte.
Potter hatte es erfolgreich geschafft, durch die ersten beiden Aufgaben zu kommen. Oh ja, der Potter Junge hatte ihn überrascht, ebenso wie die Gerüchte, die über ihn existierten. Doch es war nicht weiter von Bedeutung. Bald würde die dritte Aufgabe stattfinden und dann war es soweit.
Insofern Wurmschwanz nicht mit seinem dummen Fehler alles vermasselt hatte. Er überlegte, ob er ihn erneut mit einem Crutiatus belegen sollte. Sein Diener hätte es verdient.
Plötzlich war ein Klopfen am Fenster zu hören. Eine Eule flatterte aufgeregt davor. Er schwang seinen Zauberstab und die Scharniere des Fensters öffneten sich. Die Eule landete auf der Armlehne seines Sessels und steckte ihm einen Brief entgegen. Voldemort nahm ihn an sich. Schnell laß er die Zeilen. Ein Lächeln schlich auf sein Gesicht. Sein Diener hatte es getan. Er hatte seinen Vater eiskalt ermordet.
„Du hast Glück gehabt, Wurmschwanz", sagte er mit kalter, hoher Stimme. Wurmschwanz erzitterte. „Wirklich viel Glück. Dein dummer Fehler hat nicht alles ruiniert. Er ist tot."
„Herr!", keuchte der Mann auf dem Boden. „Herr, ich bin... ich bin hocherfreut... und bedaure das sehr..."

Voldemort forschte in den Gedanken der Ratte. Er belog ihn. Oh, doch Wurmschwanz würde es noch bedauern, daran bestand kein Zweifel. Doch vorerst durfte er leben, er war noch nützlich. Neben ihm zischelte Nagini gierig mit ihrer Zunge.
„Nagini", zischte er auf Parsel um seinen Diener noch mehr zu ängstigen, „du hast heute kein Glück. Ich werde dir Wurmschwanz doch nicht zum Fraß vorwerfen... aber reg dich nicht auf, bleib ruhig... es wird viele geben, an denen du dich laben kannst, wenn ich erst zurück bin."
Die Schlange zischelte und sein Diener sah panisch zwischen der Schlange und ihm hin und her.
„Wurmschwanz", flüsterte er nun fast. Er sah, wie sich Gänsehaut auf den Armen seines Dieners bildete. Er fasste nach seinem Zauberstab. Das prickeln der schwarzen Magie durchfuhr seinen Körper. „Vielleicht noch eine kleine Erinnerung, warum ich nicht noch einen Fehler deinerseits hinnehmen werde..."
Er hob seinen Zauberstab.
„Herr... nein... ich bitte Euch", flehte Wurmschwanz.
„Crucio!"
Wurmschwanz schrie. Schrie und er wusste, dass jeder Nerv seines Körper brannte.


Die Schreie erfüllten Harrys Ohren und die Narbe auf seiner Stirn entflammte vor rasendem Schmerz. Auch Harry schrie jetzt laut. Er musste weg. Voldemort würde bemerken, dass er in seinen Gedanken war. Er würde wissen, dass er da war. Er konzentrierte sich, um ihn auszuschließen.

„Harry! Harry!"
Harry öffnete die Augen. Er lag, die Hände aufs Gesicht gepresst, auf dem Boden von Professor Trelawneys Zimmer. Er spürte, wie die dunkle Magie durch ihn pulsierte. Noch nie hatte er es so deutlich gefühlt. Er wusste nicht, welche Emotionen die seinen waren und welche die des Dunklen Lords. Er musste mit jemanden reden... Snape! Er musste sofort zu ihm.
Er sah sich um. Die ganze Klasse stand um ihn herum. Die Gryffindors warfen ihm ängstliche Blicke zu. Daphne starrte ihn entsetzt an. Sie kniete neben ihm und zitterte leicht.
„Alles in Ordnung mit dir?", fragte sie.
„Natürlich nicht!", sagte Professor Trelawney mit überaus erregter Miene. Ihre großen Augen schwebten lauernd über Harry. „Was war es Potter? Eine Vorahnung? Eine Erscheinung? Was haben Sie gesehen?"
„Nichts", log Harry. Er setzte sich auf. Sein Körper bebte. Er blickte auf seine Hand. Es war, als ob er Wurmschwanz selbst gefoltert hätte. Und es erfüllte ihn mit seltsamer Genugtuung. Nein! Es das waren nicht seine Gedanken... oder?
„Sie haben die Hand auf Ihre Narbe gepresst", sagte Professor Trelawney. „Sie haben sich auf dem Boden gewälzt, mit der Hand auf der Narbe. Kommen Sie schon, Potter, ich habe Erfahrung mit solchen Dingen!"
Harry riss sich zusammen, nicht zu schnauben. Stattdessen setzte er eine kalte Miene auf.
„Ich denke, ich muss in den Krankenflügel", sagte er. „In dieser Räucherbude muss man ja Migräne bekommen."
„Sie sind ein großer Seher Mr. Potter - ich muss darauf bestehen, dass Sie hier bleiben, oder Sie verpassen eine unglaubliche Chance", sagte Trelawney.
„Ich denke nicht, dass Sie mich davon abhalten können, in den Krankenflügel zu gehen, Professor", das letzte Wort sprach er mit großer Abscheu aus. Es war erbärmlich, dass eine Hexe wie sie das Haus seines Vorfahren unterrichtete. Nein... falsch... Slytherin war nicht sein Vorfahre. Das waren nicht seine Gefühle.
Er stand auf. Die Klasse wich zurück. Nur Daphne blieb neben ihm.
„Ich gehe jetzt", teilte Harry seiner Lehrerin mit und stieg, bevor sie etwas sagen konnte, die Leiter hinunter. Harry war vom Turm zurück ins Treppenhaus gekommen, als er Daphne hinter sich hörte.
„Warte Harry!", rief sie.
Harry fuhr herum. Ihr besorgter Blick machte es ihm schwer, sie nicht anzuschreien, sie solle sich zum Teufel scheren.
„Harry! Du sagst mir jetzt sofort, was mit dir los ist! Und erzähl mir nichts vom Turnier. Das hier hat nichts mit dem Turnier zu tun!", sagte sie. Ihre Stimme überschlug sich fast.
„Es geht nicht", presste Harry hervor. Verstand sie denn nicht, dass er das alles nur tat, um sie und seine anderen Freunde zu beschützen.
„Was meinst du mit, es geht nicht?", fragte Daphne.
Harry spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Seine Hand kribbelte von der dunklen Magie, die er... nein der Dunkle Lord ausgeführt hatte. Seine Gefühle kochten hoch. Plötzlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Bevor er wusste, was er tat, schrie er: „Ich versuche doch nur, dich und die anderen zu beschützen! Er ist zu groß für euch. Ich will nicht, dass er von euch weiß!"
Daphne stolperte zurück, schlug sich die Hände vor den Mund und starrte auf seine Narbe.
„Es... es geht um den Dunklen Lord, nicht wahr?", fragte sie zittrig.
„Bitte Daphne... zwing mich nicht", sagte Harry. Er bemerkte, dass eine Drohung in seiner Stimme lag. Er wollte ihr nicht drohen. Er wollte sie beschützen.
„Niemand darf das wissen! Zumindest keiner unserer Mitschüler", flüsterte sie sofort. Sie trat näher an ihn heran. „Aber du musst mit jemanden reden... jemandem dem du vertrauen kannst."
„Das werde ich... ich war gerade auf dem Weg zu Snape", sagte Harry.
Daphne sah ihn an. „Lügst du mich auch nicht an?"
Harry schüttelte den Kopf. Wieder hatte er das Bedürfnis, sie zu verfluchen. Seine Hand fuhr langsam zu seinem Zauberstab. Wenn sie noch ein Wort sagen würde, hätte sie verspielt.
Plötzlich machte sie einen großen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn.
„Harry... du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst, oder? Dass ich immer alles tun werde, um dich zu unterstützen", hauchte sie. Und während sie das sagte, war es, als ob alle Wut, alle Emotionen, die nicht zu ihm gehörten, von ihm abfielen. Als sie ihn wieder los ließ, wusste er, dass er nur noch seine eigenen Gedanken und Gefühle in sich trug.
„Ja, das weiß ich Daphne", murmelte er. „Danke..."
„Jetzt geh schon", sagte sie schließlich. „Professor Snape hat gerade eine Freistunde. Ich bin sicher, er ist im Lehrerzimmer."

Harry warf Daphne noch ein dankbares Lächeln zu - dann lief er zum Lehrerzimmer. Tatsächlich war Snape dort.
„Mr. Potter! Was machen Sie hier? Sollten Sie nicht im Unterricht sein", schnarrte er.
„Professor... ich hatte wieder eine Vision", sagte er ohne Umschweife. Snape warf ihm einen durchbohrenden Blick zu, dann blickte er sich um.
„Nicht hier, Potter! Man weiß nie, wer in diesem Schloss sonst noch zuhört", sagte Snape mit kalter Stimme. Bevor Harry wusste, wo es hinging, standen sie auch schon vor dem Wasserspeier, der den Eingang zu Professor Dumbledores Büro bewachte.
„Nein! Ich will nicht zu Dumbledore!", protestierte Harry. „Ich wollte mit Ihnen sprechen!"
„Ich werde das nicht mit Ihnen diskutieren, Potter", fauchte Snape. „Zuckerfederkiel!"

Der Wasserspeier erwachte zum Leben und sprang zur Seite. Sie hasteten durch den Spalt in der Wand, der sich lautlos hinter ihnen schloss. Sie betraten eine steinerne Wendeltreppe, die sich langsam nach oben drehte und sie langsam vor eine polierte Eichentür mit einem bronzenen Greifentürklopfer brachte. Aus dem Büro drangen Stimmen.
„Warten Sie, Potter", flüsterte Snape, als Harry klopfen wollte.

„Dumbledore, ich fürchte, ich kann den Zusammenhang überhaupt nicht erkennen!"
Es war die Stimme des Zaubereiministers, Cornelius Fudge, die aus dem Büro zu hören war. „Ludo meint, Berta wäre es durchaus zuzutrauen, dass sie sich verirrt. Zugegeben, wir hatten gehofft, sie zwischenzeitlich zu finden und doch haben wir keinen Beweis für irgendein faules Spiel. Dumbledore, es gibt nicht den geringsten Beweis, dass ihr verschwinden mit dem von Barty zusammenhängt."
„Und was, glauben Sie, ist mit Barty Crouch passiert, Minister?", fragte Moody mit knurrender Stimme.
„Ich sehe da zwei Möglichkeiten, Alastor", sagte Fudge. „Entweder ist Crouch, wenn man seine persönliche Geschichte bedenkt, jetzt vollkommen übergeschnappt - hat sich geistig umnachtet vom Acker gemacht und treibt sich irgendwo rum..."
„In diesem Fall hat er sich sehr schnell vom Acker gemacht, Cornelius", sagte Dumbledore ruhig.
„Oder aber - nun...", Fudge klang verlegen. „Ich will nicht urteilen, aber sagten Sie nicht, es war Severus Snape, der ihn gefunden hat? Sie wissen, was dieser Mann wahr..."
„Ich halte Severus für einen fähigen Pädagogen. Er tut alles, um seine Schüler vor Schaden zu bewahren", sagte Dumbledore leise.
„Dumbledore, nun kommen Sie! Man hört Dinge über seine Schüler", sagte Fudge aufgebracht. „Sie wissen, dass sein Vater ein Muggel war. Eine solche Kindheit beeinflusst einen Zauberer. Können sie sich sicher sein, dass er diesen Hass jemals abgelegt hat und nicht mehr auf der dunklen Seite steht?"
„Cornelius, Sie sind irrational!", sagte Dumbledore nun etwas lauter. „Sie können Severus nicht gleichzeitig vorwerfen, dass er kein Reinblut ist und das er ein Todesser war! Ich denke, es ist möglich, dass sie da Vorurteile haben, Cornelius."
Harry sah seinen Professor überrascht an. Er wusste nicht, dass auch Snape ein Halbblut war. Er war irgendwie immer davon ausgegangen, dass der Hauslehrer von Slytherin ein Reinblut sein musste.
„Können wir diese Diskussion nun vielleicht beenden?", fragte Moody.
„Ja, ja, gehen wir runter aufs Gelände", sagte Fudge ungeduldig.
„Nein, das meinte ich nicht", sagte Moody. „Ich wollte nur anmerken, dass unser Gespräch nicht mehr vertraulich ist."

Die Bürotür öffnete sich.
„Severus. Harry. Was führt euch hierher?", fragte Dumbledore freundlich, bevor Fudge etwas sagen konnte.
„Es tut mir leid, Albus, dass wir Ihr Gespräch unterbrechen mussten", schnarrte Snape und klang dabei ganz und gar nicht, als ob es ihm leid tat. „Doch ich denke, Potter hat Ihnen etwas zu sagen."
Wenn Fudge peinlich berührt war, so zeigte er es nicht. Er hatte einen stoischen Gesichtsausdruck aufgesetzt.
„Natürlich Severus. Wartet hier auf mich. Cornelius hier möchte sich die Stelle ansehen, an der ihr Barty gefunden habt. Es sollte nicht all zu lange dauern", sagte Dumbledore mit seiner üblichen, freundlichen Stimme. „Nehmt euch doch einen Lakritzschnapper, bis ich wieder zurück bin."

Nachdem die anderen gegangen waren, war Harry mit Snape alleine. Dieser durchbohrte Harry mit seinen Blicken. Harry erinnerte sich an die Drohung des Professors und begann sofort damit, seine Gedanken von allen Emotionen zu befreien. Angesichts dessen, was er in seinem Traum gesehen hatte, war das alles andere als leicht.
„Konzentrier dich, Harry, sonst geht der Professor wieder in deinen Gedanken spazieren", dachte er bei sich. Er atmete tief durch und befreite sich von allen Gefühlen. Vollkommene Leere erfüllte seinen Geist, seine Emotionen. Der Raum blieb sichtbar - Snape konnte nicht eindringen. Harry sah, dass Snape wohl erneut einen Versuch startete. Snape zog eine Augenbraue hoch und kniff sein linkes Auge etwas zusammen. Die Luft im Klassenzimmer ließ sich fast schneiden. Harry starrte ihn ebenfalls an. Wie sehr wünschte er sich, zu wissen, was Snape gerade dachte. Er hielt dem Blick des Tränkemeisters stand, doch plötzlich verschwand der Raum erneut.
Harrys Gedanken an den Traum erschienen erneut vor seinem inneren Auge. „Nicht!", dachte er. „Das sind meine Gedanken!"
Er zwang sich, aus seiner Erinnerung aufzutauchen und sah Snape direkt in die Augen. Dann änderte sich die Erinnerung.

Er stand in der Eingangshalle von Hogwarts. Eine rothaarige Hexe kam auf ihn zu. Harry spürte, dass sich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen bildete. Das Lächeln verstand jedoch genauso schnell, wie es gekommen war. Die Hexe, die auf ihn zukam war niemand, den er kannte. Und doch... ein Gefühl der Vertrautheit durchströmte ihn.
Das waren nicht seine Gedanken! Er war in Snapes Kopf. In Snapes Erinnerungen!
„Lily!", sagte Snape. Harry erkannte, dass es seine Mutter war. Sie hatte die roten Haare, die er auf dem Foto gesehen hatte. Sie hatte die gleichen grünen Augen, die er jeden morgen sah, wenn er in den Spiegel blickte. Harry hatte gewusst, dass Snape und seine Eltern gemeinsam in der Schule gewesen waren - doch... er fühlte, dass Snape mehr für sie empfand, als man für eine einfache Mitschülerin empfinden sollte.
„Severus", sagte Lily. Ihr Gesichtsausdruck sah verletzt aus. An ihrer Robe trug sie das Schulsprecherabzeichen. Sie waren also in ihrem letzten Schuljahr.
„Ist es wahr?", fragte sie. Snape wandte sich ab. „Es stimmt also... Severus... wir sind Freunde gewesen. So viele Jahre sind wir Freunde gewesen. Wenn du das machst... dann gibt es kein zurück mehr!"

„Es gibt schon lange kein zurück mehr", sagte Snape kalt. Snape's Blick wanderte zu einem jungen Mann, der Harry unglaublich ähnlich sah und das Gespräch beobachtete.
„Sev... wann bist du nur so bitter geworden?", fragte Lily traurig.
„Du solltest jetzt gehen, Lily", sagte Snape. Harry fühlte, dass Snape etwas anderes sagen wollte. Dass es ihn schmerzte, Lily fortzuschicken. Er wünschte sich, sie in den Arm zu nehmen.
„Du musst das nicht machen!", flehte Lily.

Doch Snape schaffte es nicht, zu antworten. Ein junger Mann in Ravenclawuniform, mit blondem Haar und Vertrauensschülerabzeichen unterbrach das Gespräch zwischen Snape und Lily. Er war etwas jünger als die beiden.
„Snape! Wo bleibst du denn?"
„Ich komme!", sagte Snape. Lily sah zwischen Snape und dem blonden Mann hin und her. „Crouch", sagte sie. Die Wärme ihrer Stimme war verschwunden.
„Evans", grüßte Crouch Jr. ebenfalls so kalt. Snape drehte sich von Lily weg und ging zu Crouch.
Harry wurde klar, dass es sich bei dem jungen Mann um Crouchs Sohn handeln musste.

Im nächsten Moment war es, als würde alles um Harry in einen dichten Nebel einzutauchen. Es war, als würde er am Nacken gepackt und durch den Nebel geschleudert. Dann wechselte die Erinnerung.

„Severus!", hörte Harry eine Stimme hinter sich. Snape fuhr herum. Sie befanden sich in einem heruntergekommen Raum. Harry stieg der Geruch von vergorenem Lebensmitteln und Industrie in die Nase. Crouch stand erneut vor ihm, etwa drei Jahre älter als beim letzten Mal.
„Du hast nichts gehört, oder?", fragte er unsicher.
„Wenn ich etwas gehört hätte, hätte ich ihn gesucht", schnarrte Snape. „Ich weiß, wo meine Loyalitäten liegen."

„Bella will zu den Longbottoms. Sie haben sie gefunden. Sie ist sich sicher, dass die beiden Auroren etwas wissen", sagte er.
„Du weißt, dass ich nicht mitkommen kann. Der Lord wäre sehr enttäuscht, wenn ich meine Position bei Dumbledore wegen Bellas dummen Ideen aufgeben würde", antwortete Snape.
Mit einem Plopp war Crouch verschwunden. Snape hingegen schlug die Hände vor sein Gesicht und ... er schluchzte.
Harry war sicher, noch nie etwas Verstörenderes gesehen zu haben. Snape war niemand, der seine Gefühle so offen zeigte. Ein tiefes, fast zerreißendes Gefühl der Schuld durchbohrte Harry. Dann veränderte sich die Erinnerung erneut.
Snape saß gefesselt in einem der Gerichtsräume des Ministeriums. Es fand offenbar eine Verhandlung des Zaubergamots statt. Doch Harry bemerkte, dass nicht alle Mitglieder anwesend waren. Auf den Bänken saßen nur fünf Personen.

Harry erkannte Crouch, Fudge, Mrs. Bones, Moody und Dumbledore. Alle waren um einige Jahre jünger, als Harry sie jemals gesehen hatte.
„Severus Tobias Snape. Sie sind angeklagt, ein Anhänger von dem, dessen Name nicht genannt werden darf zu sein. Die Anklage besteht auf 15 Jahre, da ihnen keine weiteren Verbrechen nachgewiesen werden können. Wie bekennen sie sich?", fragte Crouch, der offenbar die Sitzung leitete. Snape warf einen verzweifelten Blick zu Dumbledore. Das Gefühl von Schuld war immer noch da... und Hass... unglaublicher Hass... und Angst, sie überdeckte die anderen Emotionen im Moment.
„Barty, wie ich bereits erklärt habe, war Severus ein Todesser. Doch noch bevor der Dunkle Lord fiel, hat er auf unsere Seite gewechselt. Er hat einige seiner Anhänger für uns ausspioniert und sogar dafür gesorgt, dass sich die Familie Potter verstecken konnte!", erklärte Dumbledore.
„Nun schön, Dumbledore, dann nennen sie uns doch die Namen jener, die Snape angeblich ausspioniert hat", sagte Crouch.

„Lestrange...", mehr Namen hörte Harry nicht mehr, die Erinnerungen wechselten nun schneller. Er befand sich in einem Strudel aus Bildletzten, die Harry nicht zuordnen kann.
„Der Junge... er hat Lilys Augen", hörte er eine andere Stimme.
Schuld, Hass und Verzweiflung hämmerten auf Harry ein.
„Er braucht keinen Schutz mehr, der Dunkle Lord ist tot!"
„Er wird zurückkehren! Harry Potter wird allen Schutz brauchen, den er bekommen kann."
Dann, ein deutliches Bild.
Snape, der Dumbledore das Dunkle Mal auf seinem Arm zeigte.
„Albus... es wird deutlicher. Es ist nicht mehr zu leugnen. Der Junge muss beschützt werden", sagte Snape. 

Dann wahr es plötzlich, als ob ihm jemand kaltes Wasser über den Kopf gießen würde und er starrte Professor Snape direkt in die Augen. Snape schien unglaublich wütend zu sein - würden Blicke töten können, so war Harry sicher, dass er auf der Stelle gestorben wäre. Harry wurde blass und zitterte. Snape war ein Todesser gewesen und als er ihm nun so in die Augen sah, bestand kein Zweifel daran, dass sein gegenüber dazu in der Lage gewesen wäre, ihn auf der Stelle zu töten.
„Potter! Sie Idiot", knurrte er, „was haben Sie sich nur dabei gedacht! Wissen Sie, wie gefährlich es ist, was Sie gerade gesehen haben!"
Harry zuckte zusammen. Snape sah aus, als würde er Harry am liebsten mit bloßen Händen erwürgen.
„Sir... ich.. ich weiß nicht, wie das passiert ist. Es war keine Absicht", stotterte Harry.
„Wissen Sie, in welche Gefahr Sie sich durch diesen dummen Fehler gebracht haben? In welche Gefahr Sie uns alle mit diesem Wissen bringen!", fauchte Snape.
Harry Gedanken ratterten. Was hatte er da bloß gesehen? Snape und seine Mutter waren wohl Freunde gewesen. Snape war offenbar ein Todesser gewesen, doch irgendwann hatte er die Seiten gewechselt... oder etwa nicht? All diese Wut, dieser Hass - wem galten sie? Dem Dunklen Lord, oder vielleicht Dumbledore... oder gar Harry selbst? Harry wusste nicht, was er von seinem Zaubertrankprofessor halten sollte. Die letzten Erinnerungen... sie waren unklar gewesen... doch Snape hatte definitiv geschworen, Harry zu beschützen. Nicht nur mit der Hexenweihe - bereits viel früher. Was wurde hier nur gespielt?
„Professor... ich...", Harry war sprachlos.
„Nicht jetzt Potter! Das hier darf keines Falls aufgeschoben werden. Der Dunkle Lord darf diese Gedanken nicht sehen. Wir müssen uns sofort etwas einfallen lassen", sagte Snape.
Snape stand auf und ging in Dumbledores Büro auf und ab. Einige der Porträts waren aufgewacht und fixierten ihn nun. Dann fuhr Snape herum und durchbohrte Harry erneut mit seinem Blick.
„Wissen sie, was ein Unbrechbarer Schwur ist, Mr. Potter?
Harry schüttelte den Kopf.
„Ein Unbrechbarer Schwur kann nicht gebrochen werden. Das bedeutet, alle Informationen, die durch den Schwur verborgen werden, können nicht aus ihren Gedanken gelesen werden. Es ist ein mächtiger, magischer Schutz. Doch seien sie gewarnt, brechen sie den Schwur freiwillig, wird der Schwur sie töten", erklärte Snape. Harry riss die Augen weit auf. Entsetzt fragte er: „Sie wollen, dass ich einen solchen Schwur leiste?"
„Wir haben keine andere Wahl!", sagte Snape. Harry zitterte... egal was er gesehen hatte: Er wusste, dass diesen Wissen seinen und Snapes Tod bedeuten konnten. Harry schluckte. Snape hatte ihn immer beschützt... geschworen, dass er ihn beschützen würde. Er wusste, dass er Snape vertrauen konnte und darum sagte er schließlich:
„In Ordnung. Was muss ich tun?"
„Sprechen Sie mir nach, Potter. Bei der Macht meiner Magie und meines Lebens schwöre ich, Harry James Potter, dass ich keines der Geheimnisse, die ich heute in den Gedanken von Severus Snape gesehen habe, jemals verraten werde. Ich werde das Geheimnis um die Loyalität von Severus Snape niemanden verraten", sagte Snape.
Er griff nach Harrys Arm und zog seinen Zauberstab. Dann sprach Harry den Schwur. Ein silberner Lichtfaden verband ihre Arme. Gerade als sie fertig waren, hörten sie Schritte vor der Tür. Dumbledore öffnete die Tür und erstarrte. Der Schulleiter blickte zwischen Snape und Harry hin und her. Seine blauen Augen funkelten hinter der Halbmondbrille.
„Severus, wärst du wohl so freundlich, mir zu erklären, was hier los ist?", fragte der Schulleiter. Seine Stimme war kalt, berechnend.
„Mr. Potter hat, wie es scheint, ein natürliches Talent für Legilimentik. Er hat vieles gesehen Albus. Dinge, die besser verschlossen bleiben", sagte er.
Dumbledore schien plötzlich eine unglaubliche Aura der Macht auszustrahlen, als er auf Harry zukam und ihm in die Augen sah. Harry spürte einen Druck in seinen Gedanken, doch ohne, dass er etwas machen musste, hörte es sofort wieder auf.
„Ihr habt das Problem gelöst?", fragte Dumbledore. Mit einem Mal klang seine Stimme wieder freundlicher, fast, als wäre eine Last von ihm abgefallen. Snape nickte knapp.
„Nun schön... worüber wolltet ihr mit mir sprechen?", fragte Dumbledore.
Harry begann, von dem Traum zu berichten. Davon, dass jemand gestorben war. Das alles für den Dunklen Lord nach Plan verlief. Währenddessen hatte Snape eine undurchdringbare Maske aufgesetzt, die Harry nicht verriet, was er davon dachte.
„Was denken Sie, was das bedeutet, Professor?", fragte Harry.
„Ich denke, es bedeutet, dass Voldemort wieder stärker wird", antwortete Dumbledore.

Wege eines SlytherinsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt