Kapitel 32: Irrwicht, Bowtruckle und Schlange

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Als Harry am nächsten Tag nach unten ging, hatte sich die Geschichte mit seiner Ohnmacht schon herumgesprochen. Weasley, Finnigan und Thomas wurden nicht müde, ihn daran zu erinnern.
„Mach dir nichts draus. Die werden schon noch aufhören zu lachen. Wenn wir sie wieder im Quidditch Platt machen! Erstes Spiel der Saison, Slytherin gegen Gryffindor", sagte Draco. Harry nickte, dennoch war er nicht wirklich glücklich mit dieser Antwort. Schon viel zu lange hatte er sich nicht gegen die Gryffindors gewehrt.

Doch es sollte noch schlimmer werden. Sie hatten Wahrsagen in der ersten Stunde. Da nur Harry und Daphne von den Slytherins dieses Fach gewählt hatten, sollten sie gemeinsam mit den anderen Häusern unterrichtet werden. Das bedeutete sie hatten in ihrer ersten Stunde gemeinsam mit den Gryffindors Unterricht. Gerade, als sich Harry über die Gryffindors auslassen wollte schlenderte Hagrid in die große Halle. Er kam auf die drei zu.
„Schon gehört Harry? Bin ab heute Lehrer. Hab meine erste Stunde mit euch. Heute nach dem Mittagessen. Bin schon seit fünf Uhr wach um alles vorzubereiten!", sagte Hagrid.
„Das ist ja großartig Hagrid!", sagte Harry. Doch er bemerkte, wie Draco und einige der anderen Slytherins ihm finstere Blicke zuwarfen. Hagrid ließ sich davon nicht irritieren. „Bis später dann!"
„Haltet ihr das wirklich für eine gute Idee?", fragte Draco. Vorwurfsvoll sahen Harry und Daphne ihn an.
„Na, ich mein ja nur. Ich akzeptiere Hagrid ja mittlerweile. Wirklich. Aber... ihr wisst doch, dass er manchmal... naja andere Vorstellungen davon hat, was gefährlich ist und was nicht, als die meisten Leute."
Harry musste zugeben, dass Draco nicht unrecht hatte, doch Daphne sagte nur: „Er hat mir schon im Sommer geschrieben, dass er Lehrer wird. Ich hab mit ihm gesprochen und ihn davon überzeugt, dass er mit etwas langweiligen beginnen soll. Damit wir nicht überfordert sind. Er hat wirklich enttäuscht gewirkt, aber ich denke, er sollte auf mich gehört haben."

Dann machten sich alle Schüler auf den Weg zu ihren Wahlfächern. Draco ging in den 4. Stock, wo er Aritmantik hatte. Daphne und Harry hingegen machten sich auf den Weg zu Wahrsagen. Wahrsagen fand in einem der Türme statt, in einem der seltsamsten Klassenzimmer, das Harry je gesehen hatte. Es war heiß und stickig. Der beißende Geruch von Räucherstäbchen lag in der Luft und die Fenster waren verhangen, sodass es unangenehm dämmrig war.
Doch es wurde noch schlimmer. Die Lehrerin hatte es offensichtlich darauf abgesehen, Harrys Tod vorauszusehen. Und das führte dazu, dass Harry tatsächlich um sein Leben fürchtete. Denn in seiner Tasse, da sah Trelawney, die Wahrsagelehrerin, den Grimm. Mit ungutem Gefühl musste er an den Tag denken, an dem er von den Dursleys fortgelaufen war. Hatte er damals nicht einen unheimlichen, großen Hund gesehen? War er danach nicht fast vom Fahrenden Ritter überfahren worden? Daphne meinte, er solle sich nicht zu viele Sorgen deswegen machen. Harry war unsicher. Er hatte in seinem Leben schon mehr Glück gehabt, als die meisten. Wie oft war er dem Tod nun schon von der Schippe gesprungen? Was, wenn sein Glück eines Tages einfach verbraucht war? 

Schließlich war er froh, endlich den stickigen Raum zu verlassen und in die nächste Klasse zu gehen. Sie hatten Verteidigung gegen die Dunklen Künste und alle waren gespannt auf den neuen Lehrer, der es immerhin mit einem Dementor aufgenommen hatte.
Als sie den Raum betraten, war Lupin bereits dort. „Legen sie ihre Sachen ab, sie brauchen heute nur ihren Zauberstab", sagte er. Wortlos starrten die Schüler ihn an. Noch nie hatten sie praktischen Unterricht in Verteidigung gegen die Dunklen Künste gehabt. Alle Slytherins taten wie ihm geheißen und kramten ihre Zauberstäbe aus ihren Taschen.
„Folgt mir!", sagte er gut gelaunt. Die Slytherins liefen durch das Schloss und schließlich kamen sie zum Lehrerzimmer. Niemand war dort, außer einigen Stühlen, die nicht zusammenpassten und um einem dunklen Tisch standen.
„Nun denn," sagte Professor Lupin und winkte die Klasse zum anderen Ende des Zimmers, wo nichts war außer einem Schrank, in dem die Lehrer ihre Ersatzumhänge aufbewahrten. Als Lupin vor den Schrank trat, fing dieser an bedrohlich zu ruckeln.
„Kein Grund zur Beunruhigung", sagte Professor Lupin, als alle Schüler etwa einen Meter zurückgehüpft waren.
„Hier drinnen ist ein Irrwicht. Weiß jemand von ihnen, was ein Irrwicht ist?"
Zu ihrer aller Überraschung hob Greg die Hand.
„Ja, Mr. ..."
„Goyle, Sir", sagte Greg.
„Also, Mr. Goyle?", forderte Lupin an.
„Ein Gestaltwandler, der die Form unserer größten Ängste annimmt", antwortete er.
„Sehr gut, Mr. Goyle. Irrwichte lieben dunkle und enge Orte. Den Schlitz unter dem Bett, Schränke, Spalten zwischen Möbeln, einen hab ich sogar schonmal in einer Schrankuhr gesehen. Da sie sich sofort verwandeln, weiß niemand so genau, wie sie aussehen, wenn sie allein sind. Er verwandelt sich sofort..."
„Woher wusstest du das?", fragte Pansy nun leise Greg.
„Hatten im Sommer einen auf unsrem Dachboden", sagte er und erschauderte. 
Lupin fuhr fort. „...und darum sind wir hier von Anfang an im Vorteil. Kannst du dir denken, warum das so ist, Harry?"
Harry, der sich gerade zu Pansy und Greg umgedreht hatte, zuckte zusammen, als der Lehrer ihn Hoffnungsvoll ansah. Er hatte keine Idee und auch die anderen schienen keinen Einfall zu haben. Harry überlegte. Der Irrwicht war ein Gestaltwandler, der die Gestalt der größten Ängste seines Gegenübers annahm. Plötzlich hatte er eine Idee.
„Weil wir so viele sind... und er dann nicht weiß, welche Gestalt annehmen soll?"
Lupin sah aus, wie eine Katze, die in ein Fass Sahne gefallen war.
„Sehr gut, Harry! Ganz genau. Es verwirrt ihn, wenn ihm mehrere Zauberer gegenüber stehen. Ich hab mal von einem gehört, der sich in eine halbe fleischfressende Schnecke und eine halbe kopflose Leiche verwandelt hat... zum Schreien komisch. Und so kann man einen Irrwicht auch besiegen. Man muss ihn lächerlich machen. Gelächter macht einem Irrwicht den gar aus. Der Zauber ist nicht besonders schwer, aber erfordert geistige Anstrengung. Ihr müsst euch eine Gestalt vorstellen, die euch aus vollem Herzen zum Lachen bringt. Dann sagt ihr: Ridikulus. Und jetzt alle - erstmal ohne Zauberstab."
„Ridikulus!", sagte die Klasse wie aus einem Mund.
„Lächerlich. Das ist doch kein Kindergarten hier", murmelte Draco. Vince und Greg glucksten.
„Sehr schön. Das war aber nur der einfache Teil. Beim schwierigeren Teil würde ich einen von euch bitten, mir zu assistieren. Wie wärs mit ihnen, Mr. Goyle?"
Greg schien alles andere als begeistert, doch er trat vor, nachdem er von Pansy einen Schups bekommen hatte.
„Sehr schön. Als erstes müssen wir wissen, wovor du die größte Angst hast", sagte Lupin.
Greg blickte peinlich berührt zu Boden.
„Na komm schon, wir haben alle vor etwas Angst", meinte Lupin. Mehrere der Slytherins sahen ihn wütend an. Auch Harry war alles andere als begeistert. Als wollte man eine solche Schwäche vor so vielen Leuten offenbaren! Doch Lupin schien sich nicht von seinem Plan abbringen zu lassen und warf Greg einen erwartungsvollen Blick zu.
„Vor Werwölfen", presste dieser hervor. Niemand lachte und auch Professor Lupin sah kurz aus, als würde er blass werden.
„Na schön. Werwölfe also. Der Irrwicht kann sich nur in einen Werwolf verwandeln, nicht in ein ganzes Rudel. Du musst dir also nur überlegen, was einen Werwolf lächerlich machen kann."
Greg verzog das Gesicht. „Und wie soll man ein Wesen, das einem im besten Fall tötet und im schlimmsten Fall auf ewig verflucht, lächerlich machen?", fragte er. Kurz wurde Lupin noch blasser, fing sich dann jedoch wieder und flüsterte Greg etwas ins Ohr, dessen mürrisches Gesicht sich zu einem Grinsen veränderte.
„Wenn der Irrwicht mit Mr. Goyle fertig ist, wird er sich uns anderen zuwenden. Ihr solltet euch also alle überlegen, wovor ihr die größte Angst habt und wie ihr sie lächerlich machen könnt."
Harry begann fiebrig zu überlegen. Er dachte kurz an den Dunklen Lord, doch schnell wurde ihm klar, dass dieser ihm keine Angst machte. Zumindest keine größere als der Gedanke an den Grimm. Ja, Harry war sicher, dass seine größte Angst der Grimm und sein damit zusammenhängender bevorstehender Tod waren. Doch wie sollte er ihn lächerlich machen? Wie konnte man den unausweichlichen Tod lächerlich machen? Er konnte sich nicht auf den Tod konzentrieren... der Grimm war ein Hund. Plötzlich stellte er sich Mrs. Norris vor, die dem Biest das Gesicht zerkratzte.
„Sind alle soweit?", fragte Lupin. Alle nickten. Alle bis auf Draco, der direkt neben Harry stand.
„Sehr schön!", sagte Lupin. Mit einem Schlenker mit dem Zauberstab ließ Lupin den Schrank aufspringen. Greg wurde blass, als vor ihm ein großer Wolf mit ungewöhnlich langer Schnauze, breiten Schultern und haariger Route heraus trat.
„Rrridikulus!", rief Greg es machte einen Knall und der Werwolf bekam einen Maulkorb verpasst, den er verzweifelt versuchte abzunehmen. Greg lachte, ebenso einige andere Slytherins.
„Sehr gut. Parkinson, du bist dran!", rief Lupin. Greg stolperte zurück und Pansy trat nach vor.
KNALL.
Ein Vampir stand vor ihnen, der sich die Zähne mit seiner langen, spitzen Zunge leckte. „Ridikulus!" Und plötzlich fielen dem verzweifelt dreinsehenden Vampir alle seine schönen, langen Zähne aus. Wieder Gelächter.
„Blaise, du bist die nächste!"
KNALL.
Blaise stand da und im nächsten Moment wurde der Irrwicht zu einer gigantischen Ratte. „Ridikulus!", rief sie. Eine riesige Mausefalle schloss sich über der Ratte. Blaise stolperte zurück und gegen Daphne, die sie auffing. Der Irrwicht sah plötzlich aus wie eine seltsame blasse Frau. Harry erkannte, dass es eine Todesfee war. Knall. Dann in eine Spinne.
„Sehr gut, er ist verwirrt. Gleich haben wir es geschafft. Draco, los geht's!"

Und mit einem Mal stand Draco vor der Spinne. Wieder knallte es und der Irrwicht verwandelte sich erneut. Harry dachte zuerst, dass es sich wieder um eine Todesfee handelte. Die Gestalt in die sich der Irrwicht angenommen hatte, war eine große, dünne Frau mit wildem, schwarzen Haar. Unter ihren Augen prangten dicke, schwarze Augenringe. Sie war blass und hatte ein hysterisches, gemeines Lachen. Blass wich Draco zurück.
„Du bist eine miese Enttäuschung!", begann die Frau zu schimpfen. „Nennst Halbmenschen, Blutverräter und Halbblüter deine Freunde. Dreckiger Blutsverräter, Schande dieser Familie. Du sollst ewige Schmerzen erleiden!"
Die Frau hatte einen Zauberstab gehoben. Draco schien wie erstarrt. Er hatte seinen Zauberstab gesenkt und zitterte am ganzen Leib. Ohne genauer darüber nachzudenken handelte er. Harry sprang vor Draco und erneut knallte es.
„Mrs. Norris zerkratzt sein Gesicht. Mrs. Norris zerkratzt sein Gesicht!", dachte Harry, doch als der Irrwicht seine Form angenommen hatte, stand kein großer Hund vor ihm. Vor ihm stand eine Gestalt unter einer Kapuze mit fauligen, kalten Händen. Sofort wurde es kalt im Raum und Harry hörte wieder die Schreie.
Dann wurde ihm wieder schwarz vor Augen.

„Nimm mich! Lass Harry leben!", es war die Stimme einer jungen Frau.
„Geh zur Seite, dummes Weib!", rief eine kalte Stimme, die Harry die Nackenhaare aufstellte. „Nicht Ha..."

Die Stimmen stoppten abrupt und der Raum nahm wieder Gestalt um ihn an. Vor ihm stand ein blasser Professor Lupin. Harry sah auf. Zumindest war er dieses Mal nicht vollkommen zusammengebrochen, sondern war nur auf die Knie gegangen.
„Die Klasse ist entlassen. Fünf Punkte für Slytherin für alle, die dem Irrwicht gegenüber standen. Harry, Malfoy, ihr kommt mit mir in den Krankenflügel."
Harry fühlte sich schlecht. Es war schlimmer als am Vortag im Zug. Er fühlte sich, als würde er nie wieder froh werden. Doch auch Draco sah nicht viel besser aus. Er saß zitternd neben Harry und bewegte sich ansonsten kein bisschen. Professor Lupin reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen, doch Draco schlug sie weg. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er es geschafft hatte, alleine auf zu stehen. Noch viel länger kam Harry der Weg zum Krankenflügel vor.

Wege eines SlytherinsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt