„Ich bin bereit", murmelte Anna mit pochendem Herzen und drückte zur Bestätigung Mikes Hand, auch wenn sie am liebsten davongelaufen wäre. Das hier war kein Ort, an den man kommen sollte, um jemanden kennenzulernen und dieses Gefühl wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass Mike vermutlich den ganzen Tag hier stehen und unschlüssig auf die Tür starren konnte. Dabei seine Finger immer wieder nach der Türklinke ausstreckte, nur um seinen Arm im letzten Moment doch wieder fallen zu lassen.
Erst, als sie fragend zu ihm blickte, seufzte er und stieß die Tür zu dem Raum auf, der mit Vorhängen in vier Teile geteilt war und damit auf seine eigene Weise noch trostloser wirkte, als er es ohnehin schon war. Ob andere Patienten hier waren konnte Anna nicht recht sagen, aber sie war dankbar dafür, dass sie die einzigen Besucher an diesem Nachmittag waren. Vor allem, als Mike einen der Vorhänge mit einer schwungvollen Bewegung zur Seite zog und Annas Herz einen Schlag aussetzte.
„Anna, das ist mein kleiner Bruder Jason." Wortlos starrte sie den Jungen an, der vor ihr im Krankenhausbett lag. Sie konnte nicht genau sagen wie alt er war, wirkte er doch so zerbrechlich in dem großen, weißen Bett. Und doch, er sah Mike so unglaublich ähnlich. „Hey Jay, ich habe heute meine Freundin Anna mitgebracht." Nur, dass Mikes Blick voller Wärme war, als er Annas Hand losließ und stattdessen die seines Bruders drückte, während Jason regungslos an die Decke starrte. „Und ich werde ihr jetzt erklären, was mit dir passiert ist, nachdem du es ja gerade selbst nicht tun kannst."
„Hallo Jason", brachte Anna stockend hervor und klammerte sich mit einer Hand am Gitter des Bettes fest. „Mike..."
„Ich hätte dich warnen sollen", murmelte er, während er ihr einer der abgesessenen Sitzgelegenheiten im Raum hinschob und anschließend seinem Bruder liebevoll durch die dunklen Haare strich, ehe er sich schweigend neben Anna setzte.
„Schon in Ordnung", versicherte sie ihm, nicht wissend, was sie sonst hätte sagen können. Anstatt sich weiter auf Worte zu verlassen, die sie in diesem Moment ohnehin nicht finden konnte, griff sie erneut nach Mikes Hand. Und als hätte er nur darauf gewartet, räusperte er sich und warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er wieder zu Jason sah.
„Ich weiß, ich hätte es dir früher sagen sollen. Ich weiß, dass ich dir wehgetan habe, weil ich dir nicht die Wahrheit sagen wollte. Ich weiß, dass ich dich weggestoßen habe, weil du mehrmals knapp davor warst, herauszufinden, wen ich vor dir verheimliche. Und ich weiß, dass das nicht richtig war. Ich hätte von Anfang an ehrlich zu dir sein sollen. Es tut mir Leid." War er sonst immer wortkarg geworden, wenn sie ihm eine zu persönliche Frage gestellt hatte, so sprudelten die Wörter nun förmlich aus ihm heraus. Er hatte diese Rede zweifelsohne einstudiert, das wusste sie, aber das hieß nicht, dass sie nicht von Herzen kam. Und jetzt saß er neben ihr und wartete ab, während sie versuchte einen Sinn in dem Chaos, das die vergangenen Minuten in ihr ausgelöst hatten, zu finden.
„Mike." Wie konnte sie ihm böse sein, wenn er aussah, als würde er jeden Moment zu weinen beginnen? Wenn jedes Wort hervorgepresst wurde, als würde es ihm Schmerzen bereiten es auszusprechen? „Auch wenn es mir anders lieber gewesen wäre, ich verstehe, warum du es tun musstest." Sie wünschte, sie hätte ihm eine bessere Antwort geben können, eine Antwort, die mitfühlender klang. Aber für Mike war es anscheinend mehr als nur genug.
„Danke." Er sah kurz zu ihr und warf ihr ein Lächeln zu, das wohl ehrlichste, das sie an diesem Tag von ihm gesehen hatte. „Weißt du, ich weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll. Ich habe dieses Gespräch so oft im Kopf durchgespielt, aber wenn ich dann wirklich mit dir gesprochen habe, war es jedes einzelne Mal-"
„War es, als wären die Worte aus deinem Kopf verschwunden", vervollständigte sie den Satz, dessen Ende Mike in der Luft hängen ließ, mit weicher Stimme. Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut, das Gefühl, etwas ändern zu wollen aber einfach nicht zu wissen, wie man die richtigen Worte dafür finden sollte. Und zugleich auch, wie unglaublich schwer es war, diese dann wirklich auszusprechen, wenn man sie denn gefunden hatte. „Mike, wenn du nicht möchtest oder es zu schwer für dich ist, musst du mir gar nichts hiervon erklären."
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Break the Cycle |Linkin Park|
Fanfiction» Ich sag dir was, Mike, mal wieder. Du hast nur Angst davor, noch einmal jemanden zu verlieren, den du liebst. « Würdest du zulassen, dass deine Welt auf den Kopf gestellt wird, oder würdest du um jeden Preis versuchen, deine dunklen Geheimnisse un...