Chapter Sixty-Two

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Langsam kam sich Anna so vor, als wollte die Zeit nun überhaupt nicht mehr vergehen, oder zumindest bewegte sich der Minutenzeiger der großen Uhr im Esszimmer noch langsamer fort, als er es sonst immer tat, wenn sie hier mit ihren Eltern an einem Tisch saß. Dabei sehnte sie sich so sehr danach, endlich aufstehen und in ihr Zimmer verschwinden zu können, den Beginn des Plans einzuleiten, den sie gemeinsam mit Mike ausgeheckt hatte, nachdem er ihr ein letztes Mal versichert hatte, dass am Ende alles gut werden würde. Und sie hatte ihm - wenn auch mit einigen Vorbehalten - zugestimmt und war schließlich auf seinen Vorschlag eingegangen, dass Chester sie abholen kommen würde.

Allmählich begann sie sich zu fragen, was sie ohne Mike und die anderen machen würde. Wenn er nicht gewesen wäre, würde sich ihr Leben nun zweifelsohne wieder auf einer Abwärtsspirale befinden, von der sie nur allzu gut wusste, wohin sie letzten Endes führte. So aber ging es zum ersten Mal wirklich bergauf, auch wenn es zwei Menschen gab, die ihr Bestes gaben, genau das zu verhindern. Und als hätten ihre Überlegungen den Teufel heraufbeschworen, durchbrach just in diesem Moment die strenge Stimme ihres Vaters ihre Gedanken.


„Anna, deine Mutter hat dich etwas gefragt." Wie immer sah sie nicht zu ihm auf, sondern starrte weiterhin auf das beinahe unberührte Teller vor ihrer Nase. Obwohl ihr bewusst war, dass es nicht so sein sollte, überraschte es sie doch jedes Mal wieder aufs Neue, wenn sie von einem der beiden angesprochen wurde. Was sie hingegen keineswegs überraschte war der vorwurfsvolle Tonfall, der sie schon ein Leben lang begleitete, wie sehr sie sich auch bemühte, immer alles gemäß den Wünschen ihrer Eltern zu erledigen.

„Entschuldigt bitte, ich war in meinen Gedanken verloren", murmelte sie schließlich, während sich erneut ein unsichtbarer Faden um ihre Kehle legte, es ihr schwierig machte, die Worte deutlich auszusprechen.

„Du denkst doch nicht etwa an einen Jungen?", ergriff ihre Mutter das Wort und somit unweigerlich auch das Ende des Fadens, nur um einmal kräftig daran anzuziehen und ihr endgültig die Kehle zuzuschnüren. Und doch wusste sie genau, dass ihr Schweigen nicht helfen konnte, zumal sich ihre Wangen verräterisch rötlich färbten.

„Nein, ich bin nur durchgegangen, was ich diese Woche alles zu erledigen habe, Mutter", presste sie schließlich hervor, die Hände unter dem Tisch so fest an ihre Hose gekrallt, dass ihre Fingerknöchel vermutlich weiß hervortraten.

„Was mich wieder zu meiner eigentlichen Frage bringt." Sie konnte den Hohn in ihrer Stimme hören, als sie nun endlich die Frage stellte, die seit Beginn des Abendessens in der Luft hang. „Wie war es heute an der Universität?"

„Wie immer, danke", fiel ihre Antwort knapp aus, ehe sie die Lippen fest aufeinanderpresste, in der Hoffnung, die in ihr aufsteigende Wut und Verzweiflung zurückhalten zu können. Es musste schon etwas Besonderes geschehen, damit ihre Eltern einmal Interesse an ihrer Ausbildung zeigten, aber offenbar bereitete es ihnen noch viel mehr Freude sie daran zu erinnern, dass sie nun mehr oder weniger zuhause eingesperrt war.

„Aber ich habe noch zu tun." Keine Sekunde länger würde sie es an diesem Tisch aushalten, an dem sie nur ignoriert oder verspottet wurde und so griff sie zur erstbesten Notlüge, die ihr einfiel, um endlich aufstehen zu dürfen. „Meine Mitschriften müssen noch in ein anderes Heft übertragen werden und ich würde nur ungern unvorbereitet in die morgigen Vorlesungen gehen."



Doch auch in ihrem Zimmer wollte die Zeit an diesem Tag einfach nicht vergehen, selbst, als sie nach ihrem bunten Notizblock und dem Lieblingsstift griff, um ein paar Zeilen zu schreiben. Aber auch wie sehr sie sich zu konzentrieren versuchte, sie konnte einfach keinen Anfang finden. Taten sich sonst dutzende Welten in ihrem Kopf auf, sobald sie auf die noch ungefüllten Seiten vor sich blickte, so stand sie nun einer unglaublichen Leere gegenüber, die das Ticken ihres Weckers noch lauter erschienen ließ, als es ihr an diesem Abend ohnehin schon vorkam. Aber eine andere Wahl als zu warten hatte sie nun einmal nicht, würde sie sonst noch riskieren, dass ihre Eltern Wind von ihren Plänen bekamen.

Und so verbrachte sie ihre Zeit zunächst damit, die wenigen Dinge, die in ihrem Zimmer herumlagen, ordentlich in Kasten und Kommode zu verstauen, ehe sie schließlich ihr Schlafgewand zusammensammelte und ins Bad huschte. Die Situation war absurd, dessen war sie sich bewusst, aber von nun an waren ihre schauspielerischen Fähigkeiten gefragt, wenn sie nicht bis zum Ende ihrer Tage in diesem Haus festsitzen wollte. Zumal dieses Ende dann nur eine Frage der Zeit war, erinnerte sie sich mit einem Schaudern, während ihr Blick über die weißen Fließen im Badezimmer wanderte. Sie hatte noch nie verstanden, warum ihre Eltern so bedacht darauf waren, dem Haus so wenig Leben wie möglich zu verleihen, konnte sie es sich doch bestens vorstellen, dass es in der Gerichtsmedizin so ähnlich aussehen musste wie in diesem Raum.



„Oh, da ist jemand müde." Anna tat bewusst so, als wäre sie zu sehr in ein Buch vertieft um zu bemerken, dass ihre Mutter soeben den Raum betreten hatte. „Kein Wunder, wenn du dich bis spät in der Nacht mit zwielichtigen Gestalten herumtreibst." Und auch diese Aussage ließ sie unkommentiert, auch wenn sie ihr am liebsten ins Gesicht geschrien hätte, dass ihre Freunde keine schlechten Menschen waren. Dass ihre Freunde sie unterstützten, sie so annahmen, wie sie war und nicht wie einen Sträfling einsperrten. Was es allerdings unmöglich gemacht hätte noch aus dem Haus zu schleichen, zumal sie genau wusste, dass die Worte nicht über ihre Lippen kommen würden. Aber eines Tages, das schwor sie sich, würde der Zeitpunkt kommen, an dem sie für die Menschen kämpfen würde, die ihr Leben so sehr bereichert hatten.

„Gute Nacht", gab sie schließlich zurück und gähnte demonstrativ, ehe sie sich die Decke noch ein wenig weiter über den Körper zog und sich wieder auf das Buch zu konzentrieren versuchte, auch wenn sie an diesem Abend kaum ein Wort lesen konnte, viel zu abgelenkt war ihr Geist dafür.

Bis schließlich der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie wieder in ihre Alltagskleidung schlüpfte und vorsichtig auf den Flur hinaus huschte, auf Zehenspitzen die Treppe hinunter schlich, stets darauf bedacht, möglichst am Rand der Stufen aufzutreten. Die Haustüre stellte die nächste Hürde dar, auch wenn sie nach ihren nächtlichen Ausflügen wusste, wie sie diese beinahe geräuschlos öffnen und schließen konnte. Und schließlich galt es noch den Garten zu durchqueren, ohne eine der bewegungsgesteuerten Lampen zu aktivieren, ehe sie endlich auf der Straße stand und so schnell ihre Beine sie tragen konnten zur Bushaltestelle rannte, bei der zwei nur allzu bekannte Gestalten an einem Auto lehnten, das so aussah, als würde es jeden Moment zusammenbrechen.




„Na wenn das nicht unsere kleine Ausbrecherin ist!" Chester ließ den Rest seiner Zigarette auf den Boden fallen und trat darauf, ehe er Anna wie immer in eine feste Umarmung zog, bei der sie der Geruch von Rauch und billigem Parfum umfing, der stets an ihm haftete.

„Danke fürs Abholen!" Nun, da sie zumindest für einige Stunden in Sicherheit war, konnte sie sich ein Grinsen nicht länger verkneifen.

„Gerne doch." Nun war Mike an der Reihe, sie an sich zu drücken und Anna konnte nicht anders, als sich in Erinnerung zu rufen, wie anders ihre Umarmung noch vor wenigen Stunden gewesen war. Und auch wenn sie es nur ungern zugab, er hatte tatsächlich Recht gehabt, sie hatten eine Lösung für ihr Problem gefunden.

„Noch mal Entschuldigung dafür, dass ich heute so zickig war", ließ sie ihn dennoch wissen, war ihr doch bestens bewusst, dass die Situation, in der sie sich befand und der Dämon, der damit verbunden war, ihr keinen Freibrief dafür gaben, die Menschen, die sich um sie sorgten, einfach beleidigen zu dürfen.

„Schon okay", er tätschelte ihr vorsichtig auf den Rücken. „Immerhin-„

„Leute, ich freue mich ja echt für euch und so, aber", Chesters amüsierte Stimme ließ die beiden auseinanderschrecken, „wenn wir uns nicht bald auf den Weg machen, können wir die Probe heute vergessen."

Break the Cycle |Linkin Park|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt