Chapter Nintey-Five

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tw  // mentions of self-harm


Ruhe. Ein Wort, das für Mike längst nur mehr genau das war. Ein Wort, nicht mehr und nicht weniger. Ein Konzept, das ihm ebenso fremd und ungreifbar wie Hochschulmathematik erschien. Mittlerweile musste er dankbar sein, wenn er wirklich tief und fest hatte schlafen können. Nicht die halbe Nacht seinen Gedanken nachgehangen war, sondern sich einfach nur dem Bedürfnis nach Rast hatte hingeben können. Es war ihm so fremd geworden, dass er die Geräusche, welche er nun hörte, einfach beschloss zu ignorieren. Und erst, als sich etwas – jemand – in seinen Armen zu regen begann, wurde ihm bewusst, dass die Stimme nicht aus einem Traum kam, sondern er zum ersten Mal seit Jahren verschlafen hatte.

„Alter, wir müssen in einer halben Stunde an der Uni sein!", erinnerte ihn Joe, der bereits seinen Rucksack geschultert hatte, mit Nachdruck. Dabei hatte er bewusst Mike fixiert und gab sichtlich sein Bestes, Anna zu ignorieren, die immer noch neben ihm schlief.

„Scheiße!" Frustriert rieb sich Mike mit einer Hand über das Gesicht, in der Hoffnung, dass es sich hierbei vielleicht doch nur um einen Albtraum handelte. „Du kannst schon mal gehen, ich komme nach."

„Geht klar, aber beeil dich." Mit einem letzten warnenden Blick in seine Richtung war Joe auch schon wieder aus dem Zimmer verschwunden und das Klingeln seiner Schlüssel zu hören, bevor Mike auch nur einen weiteren klaren Gedanken fassen konnte. Er hatte auf den Wecker vergessen, dieses nutzlose Ding, das auf seinem Schreibtisch stand und ihn nun zu verhöhnen schien. Ihn mit seinem Ticken daran erinnerte, dass er sich gerade eine Strafpredigt einhandelte.


„Mrggh." Anna unterdessen schien von alledem nichts mitbekommen zu haben, drehte sie sich doch lediglich erneut ein wenig und hatte offenbar die Absicht, immer noch an Mike gekuschelt weiterzuschlafen als wäre niemand ins Zimmer gestürmt. Dabei konnte sich Mike die Ironie darüber nicht verkneifen, dass es ihr leichter Schlaf gewesen war, der sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte.

„Guten Morgen", versuchte er sie mit einem Lächeln, das ihm wie von selbst über die Lippen kam, zu wecken. Nicht zuletzt, weil sie sich im Laufe der Nacht nicht wie er es erwartet hatte von ihm weggedreht hatte, sondern sie ihre Beine immer noch so abgewinkelt hatte, dass ihre Knie auf Mikes Oberschenkel lagen. Eine Tatsache, der er sich bei jeder kleinen Bewegung nur noch ein wenig mehr bewusst wurde. „Aufgewacht Schlafmütze."

„Fünf Minuten", kam die Antwort zwar augenblicklich, jedoch schien Anna ihre Worte ernst zu meinen und zog zur Bestätigung die Decke ein wenig höher.

„Tut mir sehr leid." Einfach wegzurutschen würde ihr definitiv das Falsche vermitteln, das war Mike klar. Und das Letzte, das er jetzt brauchen konnte, war, dass Anna sich wieder von ihm distanzierte. Zugleich fürchtete er aber, dass sie jegliche Distanz seinerseits als Vertrauensbruch nach dem, was sie ihm in der vergangenen Nacht erzählt hatte, werten würde. „Aber ich muss zur Uni."

„Okay." Mit einem Seufzen drehte Anna sich auf den Rücken, ehe sie beide Arme in die Höhe streckte und sich mit Schwung aufsetzte. Eine Bewegung, die Mike ihr augenblicklich gleichtat, erleichtert darüber, dass sie sich nicht einfach umgedreht und weitergeschlafen hatte. Nun aber folgte sie Mikes Blick, der stur auf den Wecker gerichtet war. „Oh scheiße, du kommst zu spät!"

„Jup." Unbewusst verzog er das Gesicht. „Das wäre so oder so passiert, nach dem Gespräch mit meiner Mom habe ich nicht daran gedacht. Aber sag mal, musst du nicht auch zur Arbeit?"

„Nein, ich habe heute Spätdienst", erklärte sie ihm gähnend und rieb sich die Augen, während Mike sich ein Lächeln angesichts ihrer wirr abstehenden Haare nicht verkneifen konnte. Und sich schließlich dazu zwingen musste, das Gespräch fortzuführen und nicht darüber nachzudenken, wie oft er sie wohl noch so sehen würde und ob er irgendwann die Chance bekommen würde, sie mit seinen Fingern zu glätten.

Break the Cycle |Linkin Park|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt