Chapter Twenty

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„Wo zur Hölle steckst du, Alter?"

„Hey, tut mir Leid ich..." Vorsichtshalber hielt er das Handy ein wenig weiter von seinem Ohr weg, war Chesters Stimme doch zweifelsohne aufgewärmt und er nicht gerade darauf aus, sich einen Gehörsturz einzufangen.

„Wo. Steckst. Du?", wiederholte er unterdessen seine Frage, betonte dabei jedes einzelne Wort und unterstrich es mit seiner absichtlich rauen Stimme, die klang, als hätte er den Teufel in sich heraufbeschwört.

„Ich schaff's heute nicht", brachte er schließlich heraus, hatte es doch eine Zeit gedauert, bis er selbst das eingesehen hatte. Wollte er doch eigentlich nichts lieber, als zu den anderen fahren und mit ihnen proben, aber bei der Strecke, die er noch zurückzulegen hatte, zahlte es sich nicht aus. „Ich erklär dir das ein andermal."

Am anderen Ende der Leitung war Chester merklich damit beschäftigt, sich selbst in Zaum zu halten, konnte er das bedrohliche Atmen doch mehr als deutlich hören. Vermutlich überlegte sein bester Freund gerade, wie er ihn am besten durch die Telefonleitung hindurch auffressen konnte. „Und du hast besser eine gute Erklärung."

Etwas sagte Mike, dass Chester heute wieder einen schlechten Tag hatte, die Musik brauchte, um die Dämonen zu bekämpfen. Ihn brauchte. „Habe ich, keine Sorge."

„Will ich hoffen." Und damit hatte er aufgelegt, ließ Mike ein wenig sprachlos in der Nacht stehen. Er verstand, dass Chester sauer auf ihn war, hatten sie sich doch eigentlich versprochen Bescheid zu geben, wenn es einer von ihnen nicht zur Probe schaffte. Nicht, weil es zu fünft unmöglich war und die Probe dann abgesagt war, nein, sie spielten bei jeder Gelegenheit die sie hatten, egal, wie gut diese Gelegenheit war. Sondern weil sie sich Sorgen um einander machten, wussten, dass es nichts gab, dass sie vom Proben abhalten konnte, nur dringende Termine, die meist schon Tage davon feststanden und zudem am Abend selten vorkamen. Wenn aber nun einer von ihnen unangekündigt nicht auftauchte, dann war das beinahe ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas passiert war, dass einer ihrer Brüder Hilfe brauchte.

„Tut mir wirklich leid", nuschelte Mike deswegen verlegen Richtung Himmel, wohl wissend, dass sie ihn nicht hören konnten. Aber wusste, dass sie seine Gründe verstehen würden. Ein Wissen, dass ihm zumindest die Schuldgefühle nahm, wie auch die Tatsache, dass ihm bewusst war, wie brenzlig Annas Situation wohl geworden wäre, wenn er nicht eingeschritten wäre.

Und doch war es etwas anderes, dass ihn wenig später nicht zu Ruhe kommen ließ, hatte er doch eigentlich vorgehabt, diesen eigenartigen Tag zu nutzen, um einmal vor Mitternacht ins Bett zu kommen. Aber nun lag er wach, hatte in den letzten Stunden verzweifelt versucht einzuschlafen, aber sein Hirn wollte einfach nicht abschalten, selbst jetzt, wo wieder komplette Stille in der Wohnung herrschte und Joe wahrscheinlich schon längst im Land der Träume war. Mikes Verstand hingegen wanderte immer wieder zu einem Moment ab, der sich so sehr von allen anderen unterschied.

Sie hatte ihn geküsst, und er sie. Und für diesen winzigen Moment, ihre Lippen auf seinen, seine auf ihren, hatte die Welt nur ihnen gehört, war die Dunkelheit verschwunden gewesen. Und auch wenn er jetzt daran dachte breitete sich eine angenehme Wärme in ihm aus, fast so, als würde sich sein Körper danach sehnen, diesen Moment noch einmal erleben zu dürfen. Zuneigung erleben zu dürfen.

„Was solls." Seufzend griff er schließlich nach dem Handy, das wie immer auf dem Nachtkästchen lag, stets in Griffweite, nur für den Fall, dass der Anruf kam. Kniff die Augen zusammen, als der Bildschirm zum Leben erwachte und ihn mit seinem grellen Licht blendete. Aber noch etwas brauchte er, stützte sich auf einem Ellbogen ab und nutze das Handy als Taschenlampe, um nach dem kleinen Zettel zu suchen, den er gewissenhaft unter all dem Chaos in der untersten Schublade des Nachkästchens verstaut hatte.

Es war clever von ihr gewesen, ihm diese Nachricht zu hinterlassen. War sie doch keineswegs aufdringlich, versteckt im Inneren des Mobiltelefons, sodass er sie gefunden hatte, als er es einsatztauglich machen wollte. Ein kleiner Zettel, ein Stück Papier, herausgerissen aus einem Notizblock, den Linien nach zu urteilen. Und doch standen keine Worte darauf, sondern nur Ziffern, eine Telefonnummer. Und ein Buchstabe. A. Wie lange hatte er doch gerätselt, wofür er stehen konnte, bis Rob ihm so unerwartet die Antwort geliefert hatte.

Und so lag er nun da, das Handy in der einen Hand, den Zettel in der anderen. Unsicher, ob das, was er vorhatte, der richtige Schritt war oder für noch mehr Chaos sorgen würde. Aber nachdem sich die Wege von Anna und ihm auf so schicksalhafte Weise immer und immer wieder gekreuzt hatten, zweifelte er mittlerweile daran, dass er sie jemals wieder komplett aus seinem Leben streichen wollte. Wobei er das nun auch endgültig nicht mehr wollte, egal wie viel Ärger sie ihm einhandeln würde, das wurde ihm nun klar, wo er vorsichtig eine Ziffer nach der nächsten eintippte, dabei nicht wirklich auf den Zettel schauen musste, hatte er die Nummer doch oft genug angestarrt, um sie längst auswendig zu können.

Ein Läuten. Mike zuckte erschrocken zurück, als hätte er das Geräusch noch nie zuvor gehört. Ein zweites. Noch konnte er auflegen, versuchen, einfach einzuschlafen. Beim dritten hob sie ab.

„Hillinger?"

„Hallo Anna, Mike hier." Ein schwaches Lächeln schlich sich ungewollt auf sein Gesicht, sobald er ihre etwas verschlafene Stimme hörte, die zugleich sein schlechtes Gewissen erwachen ließ. „Hab ich dich aufgeweckt?"

„Neinnein, keine Sorge." Er wusste, dass sie ihren Kopf schüttelte, vermutlich auch abwehrend die Hände hob und das, obwohl er Kilometer von ihr entfernt war. „Ich...kann nicht schlafen", gab sie schließlich zu, worauf er schon getippt hatte.

„Ich auch nicht." Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen, stellte sich vor, sie würden einander wieder gegenüber stehen, wie in dem Moment, in dem sie sich voneinander verabschiedet hatten. „Mit geht die Sache nicht aus dem Kopf."

„Mir auch nicht." Aber wenigstens klang sie normal und nicht so, als würde sie gerade gegen eine Panikattacke kämpfen. Allerdings war sie gut drin, Dinge zu verbergen, war das doch so ziemlich das Einzige, was er bisher über sie herausfinden hatte können.
Wobei er ihr in Sachen Geheimnisse vermutlich um nichts nachstand, das war ihm bestens bewusst.

Break the Cycle |Linkin Park|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt