Chapter Eleven

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Vorsichtig setze sie einen Fuß vor den anderen, umklammerte ihre Tasche ein wenig fester, stets darauf bedacht, keinen der anderen Studenten, die nun, nach Ende der Vorlesung aus dem Hörsaal strömten, zu berühren. Würde sie doch sonst stundenlang darüber nachdenken, ob sie sich nicht hätte entschuldigen sollen, dafür, dass sie nicht unsichtbar genug war, ihnen im Weg gestanden war.
Und andererseits wollte sie nicht berührt werden, wollte in ihrer eigenen Welt bleiben, in der Blase, die sie vor dem Grauen der Realität bewahrte. Auch wenn sie wusste, dass diesen Blase keineswegs sicher war, dass ihre Dämonen darin wüteten und nur auf die Gelegenheit warteten, wieder zuzubeißen, sie wieder zu verletzen. Sie waren ohnehin schon zu lange zu ruhig, eine Tatsache, die sie, je mehr sie darüber nachdachte, immer mehr beunruhigte. Wusste sie doch mittlerweile, dass sie nicht aufgeben würden, sie in Ruhe lassen würden. Nicht einfach so, ohne jeden ersichtlichen Grund.
Vielleicht hatte sie sich auch langsam an das Leben hier gewohnt, die Menschenmassen, die hunderten Gesichter, denen sie noch immer keinen Namen zuzuordnen vermochte. Auch jetzt, nach über einem Jahr noch, gab es Menschen, bei denen sie sich sicher war, sie noch nie im Hörsaal gesehen zu haben. Eine Tatsache, an der sie vermutlich selbst Schuld war, blickte sie immerhin meistens eine Person an, ohne sie wirklich zu sehen, sich das Gewicht zu merken. Hielt meist ihren Kopf gesenkt und konzentrierte sich auf ihre Atmung, versuchte, ihre Gedanken unter Kontrolle zu halten, wie immer, wenn sie sich außerhalb ihres Zimmers oder der Küche befand.

Behutsam sortierte sie die Dinge in ihren Händen neu, klemmte sich den Mantel einen Moment unter den Arm, um ihren Notizblock aufschlagen zu können, blätterte zur ersten Seite. Akribisch hatte sie dort jedes kleine Detail niedergeschrieben, wo sie wann sein musste, wie sie an bestem dorthin kam. Heute aber erwies sich dieser Plan als weniger lebenswichtig als sonst, da genau eine Vorlesung in einem anderen Gebäude stattfand, dessen Atmosphäre sie wesentlich mehr zu schätzen wusste als die im Hauptgebäude, das mindestens genauso kalt wirkte, wie es war, so streng wie die Sekretärinnen, die sich um die Anliegen aller Studenten kümmern mussten.
Hier aber waren die Gänge ein wenig freundlicher, die Wände nicht aus Stein, sondern mit zahlreichen Gemälden verziert, wurde das Gebäude immerhin auch von den Kunststudenten genutzt, wie sie mittlerweile herausgefunden hatte. Zumindest sahen die Menschen in der Mensa danach aus, als würden sie in den kreativen Bereich gehören, mit bunten Haaren und einem alternativen Kleidungsstil, manchmal sogar mit Farbklecksen im Gesicht.
Der Hauptgrund warum sie lieber hier war aber zweifelsohne die Bibliothek, die den gesamten vierten Stock einnahm, der Ort, an dem sie die meisten ihrer Nachmittage verbrachte.

Auch jetzt wollte sie wieder an ihren Lieblingsort, denn die besondere Stimmung in dem Saal, gefüllt mit endlosen Reihen von Büchern, half ihr dabei, sich auf ihr ungeliebtes Studium zu konzentrieren, ihren verhängnisvollen Gedanken einige Stunden lang zu entfliehen.
Beinahe schon musste sie bei dem Gedanken daran lächeln, bald wieder fast alleine in dem riesigen Raum zu sitzen, in der Stille, die sie wie der einzige Mensch auf Erden fühlen ließ.

Im Gegensatz zu hier draußen, wo die Menschen zu einen Gebilde verschmolzen, ein Gebilde mit tausenden Gesichtern. Und einem, das sie mittlerweile kannte.

Es war nur ein kurzer Moment, ein Augenblick, in dem sie einander ansahen. Und doch wusste sie, als sie ihren Blick erschrocken wieder zu Boden richtete, dass es Mike gewesen war, der sie eben überrascht angeblickt hatte.



„Und was genau sagt mir das jetzt?" Ein wenig planlos blickte Rob die Formel auf dem Papier vor ihm an, die ihm seit Tagen Kopfzerbrechen bereitete, wollte ihm doch einfach der Sinn dahinter nicht eingehen. Weswegen er jetzt auch zusammen mit Mike in der Küche von Brad und Daves Appartement saß, versuchte, sich nicht von Chesters Gelächter, das vom Wohnzimmer aus durchs ganze Haus hallte, ablenken zu lassen, und sich geschworen hatte, nicht eher heimzugehen, bevor er dieses mysteriöse Ding verstanden hatte.

„Lass mich kurz überlegen." Mit gerunzelter Stirn zog Mike das Papier näher zu sich, fuhr sich durch die roten Strähnen, während Rob ihm beim Denken zusah. „Ist doch schon eine Weile her, dass ich das gemacht habe."

„Wenn du's nicht mehr weißt ist es auch nicht weiter schlimm", nuschelte der Jüngere sofort, blickte auf seine Hände, die nervös mit einem Bleistift spielten. Immerhin hatte sich Mike freiwillig dazu bereiterklärt, ihm die Mathematik näherzubringen, obwohl er nach eigenen Angaben nicht wirklich ein Genie darin. Eine Aussage, die Rob mehr als nur ein wenig anzweifelte, warum er mit der Bitte auch zu ihm gekommen war und nicht zu einem der anderen Bandmitglieder.

„Also gut", seufzte der Rothaarige schließlich und setzte zur Erklärung an, während er auf die unterschiedlichen Buchstaben tippte. „Sagen wir, du hast einen Sack, in dem alle unsere Instrumente drin sind..."

„Das geht doch nicht?"

„Rob, bitte!" Frustriert vergrub Mike sein Gesicht in den Händen, hatte er doch noch nie verstanden, warum Robs sture Seite ausgerechnet dann zum Vorschein kommen musste, wenn es darum ging, ihm etwas zu erklären. „Gut, sagen wir, Santa Clause hat unsere Instrumente eingesackt und lässt dich jetzt dreimal ziehen."

„Ok, und weiter?" Fast schon kam es Mike so vor, als würde ein kleines Kind sitzen, das darauf wartete, dass sein großer Bruder mit der Geschichte fortfuhr. Ein Gedanke, den er aber lieber schnell wieder aus seinem Kopf vertrieb, würden sich ihre Rollen sonst in Windeseile vertauschen und Mike derjenige sein, der Robs Hilfe benötigte.

„Es gibt aber verschiedene Arten, die Instrumente zu ziehen. Zuerst musst du dir überlegen, ob du die Dinge wieder zurück in Santas Geschenkesack gibst, nachdem du sie gezogen hast, oder nicht. Und, ob es dir egal ist, in welcher Reihenfolge du die Instrumente ziehst."

„Deswegen die verschiedenen Formeln", ging Rob langsam ein Licht auf, während Mike mit seinen Erklärungen fortfuhr, sich wieder in das letzte Jahr der High School zurückversetzt fühlte.

„Am öftesten wirst du diese Formel brauchen, vor allem bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung."

„Okay, und was bedeutet dieses Rufzeichen da?", fiel dem Jüngeren unterdessen noch eine Sache ein, die sein Lehrer nicht wirklich erklärt hatte.

„Du musst alle zahlen bis zu der Zahl multiplizieren, also Linkin Park Mitglieder ! wäre..."

„Ein mal zwei mal drei mal vier mal fünf mal sechs! Ich bin ein mathematisches Genie!" Chesters unerwarteter Auftritt ließ beide erschrocken zusammenzucken und verkündete zudem das Ende der Nachhilfe, nachdem der Sänger offenbar keine Intentionen hatte, sie so schnell wieder zu verlassen. Und mit seinen, wie Mike zugeben musste, lustigen Kommentaren war es leider nicht wirklich möglich, Rob die Mathematik näherzubringen.



Authors Note

Mein Beileid an alle, die sich schon mit Statistik, Kombinatorik, Wahrscheinlichkeitsrechnung und anderen gruseligen Dingen herumschlagen müssen. Andererseits schreibe ich einfach gerne Szenen mit Mike und Rob, nachdem die zwei eine ganz andere Beziehung haben als zB Mike und Chester.

Bis zum nächsten Mal, dann wieder mit weniger Mathematik!

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