Chapter Sixty

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Wenn es jemanden gab, der Vorlesungen ernst nahm und in jeder einzelnen anwesend war, egal wie schlecht der Vortragende auch war, dann war es Brad, das wusste Anna mittlerweile mit Sicherheit. Aber offenbar hatten seine Prioritäten ihn ausgerechnet an diesem Montagmorgen, an dem sie sich so sehr nach Gesellschaft sehnte, davon abgehalten, zur Universität zu kommen. Und so starrte sie betroffen auf den leeren Platz neben ihr, hatte sie sich doch in letzter Zeit immer zu ihm gesetzt und die Vorlesungen wenigstens nicht mehr als ganz so qualvoll empfunden, nicht zuletzt, weil er stets alles kommentieren und hinterfragen musste. Was ihr zugleich half, sich zumindest ein wenig auf das zu konzentrieren, was gesagt wurde und so auch nicht mehr jeden Tag gegen die bleierne Müdigkeit ankämpfen musste, die sie nun wieder überfiel. Kein Wunder, hatte sie in der vergangenen Nacht doch kaum ein Auge zugetan, sondern stattdessen ihre Zimmerdecke angestarrt und überlegt, was sie hätte anders machen sollen. Ob sie denn überhaupt etwas anders hätte machen können. Oder ob sie einfach zu ewigem Unglück verdammt war.

Sie konnte es Brad jedoch nicht übel nehmen, dass er nicht erschienen war, galt es doch, sich auf einen der wichtigsten Termine überhaupt vorzubereiten und er wusste zudem noch nicht, was am vergangenen Abend vorgefallen war. Niemand wusste davon, nicht einmal Patty, auch wenn sie Anna einen besorgten Blick hinterhergeworfen hatte, als sie aus dem Haus geschlurft war. Sie hatte schlicht und ergreifend nicht die Kraft gefunden, auch nur ein Wort darüber zu verlieren, verlieh doch allein der Gedanke an die Worte ihrer Eltern der Dunkelheit in ihr Kraft. Die Dunkelheit, gegen die sie sich nicht wehren konnte und lediglich ein stummer Beobachter war, der dabei zusah, wie sie mit jedem Moment, den sie dasaß und in die Ferne starrte, den Worten des Professors genauso wenig Beachtung schenkte, wie der Welt um sie herum, ein wenig schwächer wurde.

Mit jeder qualvollen Sekunde rutschte sie zurück in das Loch, aus dem sie sich in den vergangenen Wochen begonnen hatte zu befreien, in dem ein Dämon lauerte und nur darauf wartete, sie wieder ein kleines wenig mehr zerstören zu können. Weitere Narben zu hinterlassen, die sie stets daran erinnern würden, dass sie einen lebenslangen Kampf auszutragen hatte, einen Kampf, den sie niemals alleine gewinnen konnte. Aber, das hatte sie mittlerweile gelernt, sie war stark genug, um ihn lange genug aufrecht zu erhalten, bis ihr jemand zu Hilfe kam. Und der Gedanke daran war es auch, der ihr am Morgen die nötige Kraft gegeben hatte, sich aus ihrem Bett zu quälen, ihren Eltern gegenüberzutreten, das Haus zu verlassen und hierher zu kommen. Mike würde einen Weg finden ihr zu helfen, dessen war sie sich sicher.

Und auch wenn die Zeit nun wieder quälend langsam verstrich, sie beinahe jede Minute einen Blick auf ihre Armbanduhr warf und sich wünschte, die Zeiger mögen sich doch schneller bewegen, irgendwann war auch diese Vorlesung zu Ende. Es gab nichts, dass sie auch nur eine Sekunde länger als nötig an ihrem Platzt hielt und sobald das letzte Wort gefallen war, hatte sie auch schon ihre Tasche gepackt, um durch die Gänge zu eilen, bis sie schließlich die schwarz gekleidete Person mit dem markanten roten Haarschopf erblickte und die letzten Schritte auf ihn zulief.

„Mike!" Sie hinterfragte nicht, warum er schon hier war, musste sie doch normalerweise auf ihn warten, fragte nicht, wo Joe war, sondern ließ sich einfach in seine Arme fallen, unfähig, ihre Tränen auch nur einen Moment länger zurückzuhalten.



„Was ist passiert?!?" Er konnte die Panik in seiner Stimme nicht verbergen, als er ihren zerbrechlichen Körperwie von selbst an sich drückte, während sie sich an seiner Jacke festkrallte, als hinge ihr Leben davon ab. „Anna, was ist los?"

Ihre Antwort ging jedoch in einem herzzerreißenden Schluchzen unter, das ihm einen Stich ins Herzen versetzte, tat es ihm doch weh, sie so traurig zu sehen. Denn auch wenn er mittlerweile herausgefunden hatte, dass Anna eine sehr sensible Person war, die sich Dinge schnell zu Herzen nahm, so war ihm doch bewusst, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein musste, um sie derart aus der Fassung zu bringen. Wobei er durchaus schon einen Verdacht hatte, wer an ihrer Verzweiflung Schuld war, hatte Brad auf seine Frage hin doch ein wenig über die Art und Weise, wie Anna von ihren Eltern behandelt wurde, berichtet.

Break the Cycle |Linkin Park|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt