„Warum muss das so lange dauern?" Frustriert lehnte Joe an der steinernen Mauer, warteten er und Mike doch nun schon seit über zehn Minuten darauf, endlich zur Kanzlei zu kommen, um einen kleinen Antrag abzugeben.
„Weil Uni." Seufzend fuhr sich Mike durch die Haare, denen er wohl am kommenden Wochenende einen neuen roten Anstrich verpassen musste, war die Farbe doch schon etwas ausgewaschen und teilweise seine natürliche Haarfarbe wieder sichtbar.
„Weil Uni, die beste Begründung für alles, was seit der High School nicht rund gelaufen ist." Er verzog sein Gesicht zu einer hilflosen Grimasse, die seinen Freund ein kurzes Lächeln entlockte, war Joe doch immer derjenige gewesen, der selbst wenn es hart auf hart kam seinen schrägen Sinn für Humor nicht verlor. Wie auch Brad, bei dem die Sache aber gefährlich enden konnte, würde er mit seinem trockenen Humor früher oder später jemanden töten, soviel war sich Mike sicher.
„Hey, wir sind schon einen halben Meter weiter", stellte er mit gespielter Freude fest, war er doch am Überlegen, ob es wirklich so dringend nötig war, dieses Papier unterzeichnen zu lassen. Aber andererseits würde er damit einen günstigeren Fahrschein für die öffentlichen Verkehrsmittel bekommen, auf die er doch beinahe jeden Tag angewiesen war. Und sogar noch öfter wäre, würde Chester ihn nicht von der Arbeit mitnehmen, wofür er allerdings nicht mit Geld, sondern vermutlich Minuten seiner Lebenszeit bezahlte, gemessen daran, wie stark sich sein Puls erhöhte, sobald der Sänger aufs Gas stieg.
„Warum müssen hier nur so viele Leute sein?", murrte Joe unterdessen weiter und rutschte an der Wand entlang auf den Boden, hatte er endlich eingesehen, dass die Sache noch länger dauern würde. Aber er wollte eben das verbilligte Ticket, wie natürlich auch alle anderen Studenten, zusätzlich zu denen, die sich wegen Fragen oder anderen Dingen hier mit ihnen anstellten.
„Solange ich in einer Stunde hier weg kann, ist alles gut." Würde eine Verspätung zweifelsohne eine Standpauke von seinem Vorgesetzten nach sich ziehen. Eine Standpauke, wie sie Chester beinahe immer erhielt, wenn ihre Schicht zur gleichen Zeit begann, war er doch Meister darin, auf die Sekunde pünktlich zu kommen und dann Diskussionen darüber zu führen, wo er sich zu Beginn seiner Schicht zu befinden hatte.
„Wenn du willst, kann ich den Wisch für dich abgeben", bot ihm Joe an, auch wenn er bereits wusste, dass Mike ablehnen würde. Und so schüttelte er wie erwartet den Kopf, folgte stattdessen seinem Beispiel und hockte sich, wie es mittlerweile auch die meisten Wartenden taten, auf den kalten Fliesenboden des alten Gebäudes. Brauchte wie immer keine Sekunde, um in seinem Kopf wieder bei der Musik zu sein, wie immer, wenn er auf etwas warten musste, oder einfach nur Zeit hatte, sich mit etwas anderem, als der Uni und seinem Job zu beschäftigen. Zeit für sein Leben hatte.
„Du bist noch immer nicht mit dem Text zufrieden, was?" Der DJ sah ihn fragend an, waren ihm doch nicht die kleinen Gesten entgangen, die Mike ganz instinktiv machte, währen er die Worte in seinem Kopf zu einem Fluss formte, dessen Verlauf bei all den Windungen und Turbulenzen kaum zu erkennen war.
„Der Song hat nicht einmal einen Titel", brachte er seine Verzweiflung mit seinem musikalischen Sorgenkind auf den Punkt, mochte er zwar, was sie bisher mit den Instrumenten dazu geschaffen hatten, der Text aber wollte einfach nicht werden. „Ich glaube nicht, dass uns der jemals weiterhelfen wird."
„Es gibt sicher irgendeinen Teenager, der seine Freude mit dem Refrain hätte. Schön düster, alles ist egal, Mike leidest du an Depressionen, die ganze Welt ist schl..."
„Jaja, schon gut, ich hab's verstanden, du magst den Song." Kopfschüttelnd sah er Joe an, der lediglich mit den Schultern zuckte. In gewisser Weise hatte er Recht, das musste er ihm zugestehen, der Song hatte Potential. Nur war ihm bisher noch nicht die zündende Idee gekommen, wie er dieses Potential auch nutzten konnte.
„Hat Brad eigentlich je wieder was von dem einen Typen da gehört?", fiel seinem Freund unterdessen wieder ein, der nachdenklich mit dem Bügel seiner Brille spielte.
„Wen meinst du?", verdattert legte Mike den Kopf schief, war es immerhin Brad Hauptaufgabe geworden, sich nach einer Plattenfirma umzusehen, eine Entscheidung, die mehr oder weniger nach dem Ausschlussverfahren getroffen worden war. Ihm selbst war diese Aufgabe entzogen worden, nachdem ihn Joe drei Nächte hintereinander vorm Computer vorgefunden hatte, damit beschäftigt, nur noch eine Adresse herauszusuchen. Rob hatte dankend verzichtet, war es für ihn meistens schon eine Herausforderung, auch nur ein Wort herauszubekommen. Chester konnte nicht mit den Absagen umgehen, das war allen klar, und so kam er, um die Labels vor allzu netten Antworten zu schützen nicht in Frage, während Joe einfach keine Lust darauf hatte und Phoenix war eindeutig nicht aufdringlich genug.
„Wie heißt der Typ noch mal schnell? Green? Brown?"
„Der vom Sommerjob!", fiel bei Mike schließlich der Groschen, musste ihn aber enttäuschen. „Hat sich nie mehr gemeldet, glaube ich. Oder eine Absage geschickt."
„Ich glaub', wenn wir für jede Absage einen Dollar bekommen, sind wir reicher als die Stones. Aber hey, sag mal, Mike", fiel ihm etwas wieder ein, was ihn seit dem Vortag beschäftigte, „war gestern Abend alles in Ordnung?"
„Ich hab' Rob über diese St..." Der Rest des Wortes wollte seinen Mund nicht verlassen, sah er doch, wer just in diesem Augenblick die Kanzlei verließ, die Arme schützend um ihren Körper geschlungen, als hätte sie Angst vor allem, was sie umgab. All die Menschen, die sie nicht wahrzunehmen schien, suchte sie doch mit leerem Blick nach dem Weg durch die Menge, schien niemanden anzublicken, obwohl ihr Kopf gesenkt war, als würde sie in ihrer Jacke verschwinden wollen.
„MIKE!" Erst Joes Stimme ließ ihn realisieren, dass sie nicht die einzige war, die alles ausgeblendet hatte, dass es mehr als dieses Skelett gab, das durch die altehrwürdigen Gänge huschte, seinen Weg ans Licht suchte.
Warum musste sie nur so sein? Zitternd krallte sich Anna an den Riemen ihres Rucksacks fest, war sich sicher, dass ihre Fingerknöchel schon weiß hervortreten mussten, aber sie brauchte etwas, an dem sie sich festhalten konnte, irgendetwas, das sie davon abhielt, weinend zusammenzubrechen. Dabei war es nur ein einfacher Zettel gewesen, den sie hatte abgeben müssen. Aber all diese Menschen waren einfach zu viel für sie. Und doch, jetzt, wo sich ihr Puls langsam wieder beruhigte und das Zittern nachließ, die Wolken, die ihren Verstand verschleierten langsam abzogen, sah sie ein Detail immer deutlicher, das sie vorher ignoriert hatte, das ihr nicht aufgefallen war.
Der rothaarige Student war unter den Wartenden gewesen, hatte sie gesehen, sie angesehen. Und war von seinem Freund mit seinem Namen gerufen worden. Mike.
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Break the Cycle |Linkin Park|
Fanfiction» Ich sag dir was, Mike, mal wieder. Du hast nur Angst davor, noch einmal jemanden zu verlieren, den du liebst. « Würdest du zulassen, dass deine Welt auf den Kopf gestellt wird, oder würdest du um jeden Preis versuchen, deine dunklen Geheimnisse un...