Kapitel 46

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Diesmal blickt Skyla durch die Augen eines Teenagerjungen, der sich in dunkelster Nacht zu Recht findet. Sie spürt das Stechen in den Oberbeinen und das Brennen der Lungen durch einen langen Sprint. Die Nachtluft ist klar, die Straßen leer. An einer Straßenlaterne vorbei, erkennt Skyla, dass sie einen Feldweg entlangläuft. Der Träger der Erinnerung muss kurz pausieren, um nach Luft zu schnappen. Aus der Ferne dringen Tierlaute an Skylas Ohr - eine Eule und Fledermäuse. Ein paar Atemzüge weiter und schon geht es weiter.

Eine Bushaltestelle sticht zwischen den Feldern hervor. Einladend wirkt die kleine Unterstellmöglichkeit nicht. Abgesehen von den dicken Spinnenweben dort hat der halboffene Glaskasten schon bessere Tage hinter sich und ist größtenteils mit dummen Sprüchen beschmiert worden. Rost blickt hervor und Farbe blättert ab. Noch viel schlimmer ist jedoch, was sich an diesem einsamen Ort abspielt. Skylas Bauch füllt sich mit Wut, als sie das am Boden wimmernde Kind sieht. Es ist umzingelt von drei älteren Kindern, die sich daran erfreuen, auf das machtlose Kind einzutreten. Abseits des geschehen befindet sich ein weiteres Kind, das freudig einen verdreckten Rucksack leerräumt. Würde es nach Skyla gehen, dann würde sie sich alle vier Bengel schnappen, ins Feld schmeißen und ein Machtwort aussprechen.

Zum Glück läuft der Träger dieser Erinnerung nicht einfach an ihnen vorbei.

Er brüllt die Kinder sogar an: „Weg von ihm!"

„Was willst du denn?", knurrt einer der aggressiven Kids.

Skyla betrachtet den Jungen abschätzend.

Was muss nur in der Erziehung schief gegangen sein, dass sich Mr. Obercool an einen wehrlosen Jungen mit seinen kleinen Freunden vergreift?

Die Kappe trägt der kleine Bengel falsch und doch finden einige widerspenstige Strähnen einen Weg hinaus. Mit verengten, dunklen Augen blickt das Kind herausfordernd auf.

„Was hat euch mein Bruder getan, dass ihr ihn so behandelt?", fragt der Junge, aus dessen Augen Skyla blickt.

Seine Stimme zittert vor Zorn.

„Er ist ein Klugscheißer und schwach!" Der Junge mit dem Rucksack in der Hand kommt dazu. „Seid ihr arm? Der hier hat ja nichts Wertvolles dabei!"

„Drei gegen einen finde ich schon etwas unfair! Lasst meinen Bruder in Frieden! Und räumt die Tasche wieder ein! Ihr solltet euch alle bei ihm entschuldigen!"

Der Träger der Erinnerung drängt sich an den Kids zu seinem jüngeren Bruder vorbei. Gerade, als er sich hinunterbeugt und dem am Boden liegenden Jungen versichern will, dass alles wieder gut ist, erwischt es ihn von der Seite und haut ihn um. Die Schmerzen an der getroffenen Wange fühlen sich real an. Es ist nicht bloß eine Erinnerung, die Skyla erblickt. Sie ist Teil des Ganzen und wird mit sämtlichen Gefühlen konfrontiert. Selbst das Schmerzempfinden verschont sie nicht.

„Was bildest du dir eigentlich ein? Mit dir nehmen wir es auch schon auf!", bekommt das Medium zu hören.

Auch Skyla hätte hier ihre Fassung verloren. Sie weiß es, denn ein ähnliches Szenario hat sie schon einmal erlebt, als Lukas von ein paar Klassenkameraden zu Boden geprügelt wurde. In diesem Moment hatte sie wie der ältere Bruder hier ihre Fäuste sprechen lassen. Nur mit dem Unterschied, dass sie Lukas' Peiniger unterlegen war und einstecken musste. Dieser Kerl hingegen scheint mit Erfahrung zu punkten, keine Faust trifft ihn mehr. Die Kids verfehlen ihn und liegen schnell auf den Boden. Bedrohlich baut sich der große Bruder auf und auch wenn Skyla diese Gewalt nicht tolerieren sollte, freut sie sich wie ein Honigkuchenpferd, dass dieser Kerl erfolgreich Rache für seinen Bruder nehmen konnte.

Im Schnelldurchlauf bekommt sie sein Leben zusehen, die Bilder fliegen einfach an ihr vorbei. Szenarien ähnlich wie die an der Bushaltestelle und Momente von rührender Brüderliebe und einem starken Familienzusammenhalt. Immer leidet der kleine Bruder. Eine Tatsache, die Skyla verärgert und oft an Lukas erinnert. Denn auch ihr bester Freund wird für seine strebsame Art und sein wohlhabendes Leben beneidet. Lukas Gütigkeit und Schwäche wird immer wieder gerne ausgenutzt. Obwohl ihr bester Freund mit einem hübschen Gesicht und einem fürsorglichen Charakter gesegnet ist, ist er ein Herzensbrecher. All jene Mädchen, die ihm die Liebe gestanden, hat er abserviert. Als Skyla ihn damals deswegen ansprach, hieß es immer, dass all die Mädchen ihn nicht kennen würden und ihn nicht aufgrund seiner inneren Werte lieben. Es ist kein Geheimnis, dass Lukas an nichts fehlt und ihr bester Freund fürchtet sich davor, ausgenutzt zu werden. Außerdem macht ihm die Trennung seiner Eltern zu schaffen. Zum Glück hat Lukas diese düsteren Zeiten überstanden und seinen Frieden damit gefunden. Und das wünscht sich Skyla für den kleinen Jungen ebenfalls.

Nebenjob GeisterjagdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt