Sanft zog ich Ben nun in meine Arme.
"Ich wünschte das alles wäre nicht passiert!", schluchzte er.
"Ich weiß. Ich kenne das Gefühl, aber es ist nunmal passiert. Meine Mutter hat immer gesagt, dass alles aus einem Grund passiert. Jedes Ereignis hat einen Grund, den das Leben für einen Vorgesehen hat. Wäre Darling zim Beispiel nicht gestorben, hätte ich Devil nie kennen gelernt."
"Und was soll sein Tod für einen Grund gehabt haben?"
"Ich weiß es nicht, aber es gibt bestimmt einen. Vielleicht war es auch einfach nur Schicksal. Vielleicht hat ihn irgendwer als Schutzengel für dich vorgesehen."
"Der Gedanke ist schön."
"Na siehst du."
"Aber warum hatte meine Mutter keinen Schutzengel? Warum musste sie sterben? Warum konnte ich ihr nicht helfen?"
"Keiner hätte ihr helfen können. Schutzengel sind mächtig, aber gegen Krebs kann niemand etwas tun."
"Warum konnte ich ihr nicht helfen? Warum war ich nicht für sie da?"
"Ben du warst sieben! Du hast nichtmal verstanden, was Krebs überhaupt ist! Du wusstest nicht, dass sie sterben würde! Und selbst wenn hättest du es wahrscheinlich nicht geglaubt! Du warst noch ein Kind! Keiner hat von dir erwartet, dass du für sie da bist! Und geholfen hättest du ihr damit auch nicht. Keiner hätte sie wirklich retten können. Krebs ist nunmal in den meisten Fällen unheilbar und damals sowieso. Da war die Medizin noch gar nicht so weit."
"Ich wünschte nur ich könnte mich noch an sie erinnern!"
"Du weißt noch, dass sie dich geliebt hat, oder?"
"Ja."
"Das reicht doch. Niemand erwartet von dir, dass du dich noch an sie erinnern kannst. Es ist immerhin fast 40 Jahre her, dass du sie das letzte Mal gesehen hast."
"Wie schaffst du es mit so etwas klar zu kommen? Du hast bestimmt schon zehnmal so oft sowas erlebt. Wie kommst du damit klar?"
"Ich rede. Ich erzähle alle meine Probleme irgendwem. Und wenn ich mit Ginger oder Devil rede, aber ich spreche. Das hilft einem alles zu verarbeiten. Deshalb bin ich dich dauernd am nerven damit, dass du mit mir reden kannst. Das hilft. Also leg los. Heul mir einfach mal die Ohren voll. Und wenn es die ganze Nacht dauert. Ich hab kein Problem damit. Überhaupt nicht."
"Ich weiß nicht, ob ich das kann."
"Schatz! Hör auf nach zu denken! Rede einfach! Ich nehme dir ganz und gar nichts übel, okay?"
"Es liegt nicht an dir."
"Ben jetzt hör auf damit! Erzähl mir einfach, was los ist! Was beschäftigt dich? Sprich!"
"Ich vermisse ihn."
"Wen? Deinen Bruder?"
"Ja."
"Kannst du dich noch an seinen Namen erinnern?"
"Den würde ich nie vergessen."
"Wie hieß er?"
"Marrek."
"Ein schöner Name. Kannst du dich noch an ihn erinnern?"
"Teilweise."
"Erzähl mir von ihm."
"Er... er war sehr neugierig. Er fragte viel und hinterfragte alles, was man ihm erzählte. Gleichzeitig war er für sein Alter sehr schlau. Gerade die Tiere und die Natur haben ihn sehr interessiert. Er hat ununterbrochen geredet. Nichts konnte ihn zum Schweigen bringen."
"Er war dir sehr wichtig oder?"
"Ja."
"Ich kann dich verstehen, aber du musst endlich damit aufhören dir Vorwürfe zu machen! Du kannst nichts dafür! Du warst noch ein Kind! Du hättest es nicht verhindern können!"
"Warum konnte ich mich in diesem Moment nicht bewegen? Ich hätte ihn vielleicht noch aufhalten können!"
"Das ist der Schock. Du hast es kommen sehen. Und selbst, wenn du ihm hinterher gerannt wärst, hättest du ihn nicht retten können. Das Einzige, was passiert wäre, wäre, dass du ebenfalls gestorben wärst."
"Dann wäre ich wenigstens jetzt bei ihm."
"Ben! Jetzt bekomm mir bloß keine Selbstmordgedanken! So darfst du nicht denken!"
"Es ist aber so!"
Bei diesem Satz kamen mir die Tränen. Ich konnte es einfach nicht ertragen so etwas von ihm zu hören.
"Schatz bitte sag so etwas nicht! Ich brauche dich!", schluchzte ich.
"Ich dich auch. Süße ich liebe dich über alles und das weißt du auch! Ich würde mich nie umbringen! Das verspreche ich dir! Ich weiß, dass du das nie ertragen würdest. Du könntest es nicht verkraften. Es reicht, wenn du deine tote Mutter gesehen hast. Wenn ich sterbe, würdest du es auch tun. Ich wünsche mir manchmal einfach nur bei ihnen zu sein."
"Das musst du nicht. Sie sind bei dir. Sie sind da oben und passen von da aus auf dich auf. Sie sehen alles, was du tust und sie sind bestimmt verdammt stolz auf dich."
"Wie kommst du darauf? Worauf sollten sie stolz sein? Ich bin doch nichts besonderes und ich mache auch nichts besonderes."
"Ist das jetzt dein Ernst?"
"Ja. Ich mache doch nichts besonderes!"
"Ben! Du trainierst am Tag 8 Pferde und gewinnst mit ihnen jedes Rennen, was du reitest. Du züchtest die besten Fohlen und holst jedes Jahr hunderte von ihnen gesund auf die Welt. Du willst mir doch nicht ernsthaft erklären, dass du denkst du wärst nichts besonderes oder?"
"Doch. Ich bin doch nur der schüchterne Stallbursche."
"Und in genau diesen schüchternen Stallburschen hab ich mich verliebt. Schatz du bist etwas besonderes und sie sind verdammt stolz auf dich! Du hast alles, was man sich wünschen kann. Du hast einen Haufen wunderbare Pferde, du bist bei jedem Rennen in das du rein reitest platziert und gewinnst die meisten, du hast jede Menge Fohlenleben gerettet und du hast eine tolle Tochter. Sie sind garantiert stolz auf dich. Deine Familie ist schon stolz auf dich, wenn du einfach nur glücklich bist. Das verspreche ich dir!"
"Du hast das Wichtigste, was ich hab, vergessen!"
"Und das wäre?"
"Die wunderbare Frau, die ich liebe und heiraten durfte."
"Ach du bist süß."
"Nein. Ich sage nur die Wahrheit. Du bist das Wichtigste in meinem Leben. Wenn du nicht wärst, hätte ich mich wahrscheinlich schon umgebracht."
"Lass das bloß sein!"
"Das werde ich. Keine Sorge. Ich hab nicht vor mich um zu bringen."
"Das will ich hoffen, aber darum geht es jetzt gar nicht. Was ist sonst noch los? Was beschäftigt dich sonst?"
"Ich hab Angst."
"Wovor?"
"Das du stirbst. Ich hab Angst davor dich allein zu lassen. Als ich meinen Brunder für ein paar Sekunden allein ließ, starb er. Als ich meine Mutter für zwei Wochen allein ließ, starb sie. Als ich Stuart allein ließ, starb er. Und jetzt, wo ich einige Wochen nicht bei Shalima war, starb auch sie. Alle, die ich allein ließ, starben. Ich hab einfach Angst davor, dass dir das Gleiche passiert! Ich will nicht, dass du stirbst!"
"Das werde ich nicht. Ich werde nicht sterben, wenn du mich alleine lässt."
"Ich weiß ja. Das ist eigentlich total bescheuert, aber ich hab seit Shalimas Tod immer wieder diesen Traum. Immer wieder ist es so, dass wir uns streiten, ich dich alleine lasse und du stirbst. Diese Tode werden immer schlimmer und immer grausamer. Ich hab einfach Angst, dass das in der Wirklichkeit auch passiert. Ich will dich nicht verlieren!"
DU LIEST GERADE
Sprung ins Chaos
Random"Sprung ins Chaos" ist der 6. Teil meiner Buchreihe zu den Bewohnern des Gestüts Michalòw und knüpft direkt an den 5. Teil "Der falsche Sprung" an. Auch hier geht es wieder um Lisa, Ben und vor allen Dingen auch Emely, die mal wieder ordentlich Chao...