50 - Erdbeermund

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Isabelle bemühte sich, nicht zu rennen. Es wäre zu auffällig. Aber sie wäre gern gerannt. Schnell. Und weit, weit weg. Sie biss sich fest auf die Zunge, um ihre Gedanken zu klären. Lilith schwirrte durch ihren Kopf. Sie musste sich einfach beruhigen, sonst konnten sie ihren Plan vergessen.

Als sie um die Ecke bog, sah sie Ruby und Jolene. Die kleine, brünette Schattenjägerin hatte sich bei Jaces Tochter eingehakt und plapperte so zufrieden vor sich hin, als wären die beiden schon immer die besten Freundinnen gewesen. Ruby nickte und lächelte, ihr Gesicht wirkte abwesend. Das schwarze, rauchige Make up, das sie aufgetragen hatte, ließ ihre Augen größer wirken und und irgendwie verrucht. Etwas ließ ihre Haut schimmern und auf ihren Lippen lag dieser gewisse, blassrosa Glanz...

Nein, korrigierte sich Isabelle. Ruby hatte sich sicher nicht selbst geschminkt. Das musste Jolene gewesen sein. Ob die beiden wussten, welche Wirkung die große Blondine damit hervorrief? Selbst Isabelle konnte sich dem nicht entziehen. Sie fragte sich sogar, warum es ihr nicht schon früher aufgefallen war: die Art, wie Ruby sich bewegte, fließend und ständig in der Erwartung, als wäre sie von Feinden umgeben, die im Schatten nur auf eine Nachlässigkeit warteten. Sie wusste nicht, ob ihr gefiel, was sie da sah: sie wirkte wie Jace vor zwanzig Jahren.

"Guten Morgen!", erklärte sie lauter, als beabsichtigt, und die Mädchen fuhren erschrocken zusammen. Sie waren tatsächlich so ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie Isabelle nicht gesehen hatten. Im ersten Moment glaubte sie, dass dieser kurze Schreck ausgereicht hatte, um aus Ruby wieder das Mädchen zu machen, das sie anfangs hier gewesen war, doch sie irrte sich. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, bis die großen, graugrünen Augen jedes Detail in ihrer Umgebung erfasst zu haben schien, dann kam ihre Haltung zurück: die Arroganz. Das Lauern.

Sie bewachen sich gegenseitig, als wären die Teufel aller sieben Höllen hinter ihnen her, hatte Charlotte in San Francisco zu ihr gesagt. Jetzt musste sie wieder daran denken und konnte deutlich sehen, dass es wahr war, was sie für eine etwas überzogene Darstellung gehalten hatte.

"Morgen", sagte Ruby, nachdem ihre Augen aufgehört hatten, die Umgebung abzusuchen. Es hatte tatsächlich nur eine Sekunde gedauert. Jolene war ihre Anwesenheit immerhin zwei Worte wert, aber im Gegensatz zu Jaces Tochter wirkte sie viel fröhlicher, regelrecht aufgedreht. Isabelle war sicher, dass sie mal wieder irgend eine Dummheit angestellt hatte. Eine kleine nur. Bei Jolene waren es immer die Kleinigkeiten, und gerade deshalb musste man sie im Auge behalten.

Ihr wurde klar, dass die Mädchen sie abwartend anstarrten und Isabelle befürchtete schon, dass sie rot werden würde, sie war einfach zu paranoid, doch dann wurde ihr klar, dass der Aufzug gleich um die Ecke lag. "Ich hoffe, ihr wart nicht draußen", erklärte sie streng. "Denn wie du weißt, hast du noch Hausarrest, Elizabeth."

Ruby begegnete ihrem Blick unbeeindruckt. "Seit heute Morgen nicht mehr", erwiderte sie leise, aber fest. "Die Woche ist rum." Etwas an der Art, wie sie den Kopf dabei bewegte, hätte Isabelle beinahe eine weitere Woche aussprechen lassen, aber dazu gab es keinen überzeugenden Grund. Vielleicht nur den, dass Lilith dort draußen auf sie warten könnte. Sie hätte es niemals zugegeben, aber sie wollte ihre Schützlinge genauso gern da heraushalten, wie Jace.

"Ja, natürlich", Isabelle bemühte sich, hart zu bleiben. Dieses Mädchen brachte sie aus der Fassung. Oder nein, eigentlich nicht Ruby, die Situation war es. Und sie durfte sich nichts anmerken lassen. Sahen die beiden sie komisch an? Nein. Nicht ausflippen. Es war nur ihre Angst, die ihr das einzureden versuchte. "Dann hoffe ich, ihr hattet einen schönen ... Vormittag." Sie musste auf die Uhr sehen, um sich zu vergewissern.

Jolene lachte los und Ruby warf ihr einen warnenden Blick zu. "Ja, einfach phantastisch!", trällerte die brünette Schattenjägerin, dann setzten sich die beiden wieder in Bewegung und marschierten an Isabelle vorbei. Sie flüsterten miteinander, ohne die Institutsleiterin weiter zu beachten, und mehr als einmal kicherte eine von ihnen. Sie waren wieder zwei ganz normale Teenagermädchen.

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