72 - Welt unter

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Ruby starrte auf die Uhr. Die Zeit dehnte sich wie Kaugummi. Ihr Herz raste immer noch. Oder schon wieder. Sie war sich da nicht so sicher. Fünf Minuten. Seit dem letzten mal, dass sie auf die Uhr gesehen hatte. Vier, um genau zu sein und vielleicht noch ein paar Sekunden, aber diese blöden Digitaluhren waren nicht so genau, wie sie es gern gehabt hätte. Oder auch nicht. Das Ticken hätte sie vermutlich vollkommen wahnsinnig gemacht. Nach einigen weiteren nervösen Schritten fand sie sich im Bad wieder und ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass ihre Augen immer noch unnatürlich strahlten, dass ihr Haar immer noch aussah, als hätte jemand sehr intensiv darin herumgewühlt, und dass ihre Lippen noch ganz normal wirkten, obwohl sie sich wund geküsst und heiß anfühlten.

Mit einem unterdrückten, frustrierten Schrei marschierte sie zurück. Zwei weitere Minuten waren vergangen. Sie wusste wirklich nicht, wie sie es hier drin aushalten sollte ohne Gesellschaft, nur mit sich selbst und ihren Gedanken. Mit Büchern, die sie schon tausend mal gelesen hatte und Dingen, die sie aufräumen könnte, an deren Bestimmungsort sie sich aber einfach nicht mehr erinnern konnte, wenn sie sie schließlich in der Hand hielt. Sie konnte nur noch an Victor denken und das, was gerade beinahe passiert wäre. Allein bei dem Gedanken fühlte sie sich schon wieder so, als würde sie am ganzen Körper gleichzeitig rot werden.

Sie warf das Buch aufs Bett, das irgendwann innerhalb der letzten dreißig Sekunden auf unbekannte Weise in ihre Hand gelangt war, und stürmte aus der Tür. Ihr Hirn mochte vielleicht nicht gut funktionieren, aber sogar in ihrem Zustand wusste sie, dass ihr Vater sich noch ein paar Stunden mit Victor beim Training herumtreiben würde, und dass sie genug Zeit hätte um...

Um was eigentlich? Jolene war unterwegs, der würde keiner den Nachmittag verderben. Fast wäre sie umgedreht, um das selbst zu tun, aber was würde das bringen? Sie schnitt sich selbst eine Grimasse. Sie wusste ja nicht mal, wo Werwolf-Jared wohnte.

Sich durch die Haare fahrend marschierte sie weiter, den Blick angestrengt nachdenkend auf den Boden gerichtet. Jolene fiel also aus. Isabelle würde sie mit Sicherheit mal wieder mit mehr oder weniger sinnvollen Vorwürfen überschütten und selbst trainieren konnte sie auch nicht, denn was ihr jetzt am besten getan hätte - rennen, einfach nur rennen, bis sie zu erschöpft war um nachzudenken - hätte drinnen im Institut sicher ziemlich merkwürdig ausgesehen. Und die Leute, die man dabei aus Versehen treffen konnte, auf die konnte sie jetzt wirklich verzichten.

Seufzend schloss sie die Augen und fuhr sich durchs Gesicht. Wer nur, wer... Ihre Mutter. Beinahe hätte Ruby entnervt gestöhnt. Die einzige Person, die gerade in Frage kam, und die einzige Person, die ihr vermutlich alles schon an der Nasenspitze ansehen würde. Aber besser noch Sex-Gespräch Nummer zwei, als den ganzen Nachmittag wie ein Tier im Käfig in ihrem Zimmer herumwandern.

Sie strich sich das Haar zurück, und wollte weitergehen, aber etwas war anders. Alles war gleich und trotzdem... Sie machte einen Schritt und kleine Staubwolken wirbelten vor ihr auf. Verwirrt sah sie sich um. Sie stand mitten in einer Kreuzung. Wann war sie hier her gekommen? Und wo genau war sie? Es schienen eindeutig Gänge im Institut zu sein, doch sie waren alt und schmutzig, selbst die Elbenlichtsteine schienen schwächer zu leuchten, und Spinnweben hingen von der Decke.

Fröstelnd drehte sie sich um und wollte zurückgehen, doch da waren keine Fußspuren. Nichts, was darauf hindeutete, woher sie gekommen war. Panik kam in ihr auf, als sie sich erneut umdrehte und in jeder Richtung nach einem Hinweis suchte, den sie aber nicht fand. Alle Gänge sahen gleich aus und verloren sich nach wenigen Metern in Dunkelheit.

Und dann ging das erste Licht aus.

Ruby zuckte zusammen und machte einen Schritt rückwärts. Die Schwärze vor ihr schien beinahe zum greifen dick. Sie trat noch einmal zurück und sah, wie in den Seitengängen ebenfalls die Lichter erloschen. Ein Rascheln ertönte hinter ihr und sie drehte sich entsetzt um. Ein weiteres Licht verschwand. Zwei brannten noch in jedem Gang. Das Rascheln kam wieder, es klang wie etwas, das sich langsam über den Boden schob. Sie schluckte schwer und trat näher an das Elbenlicht, das ihr am nächsten war. Zwei noch in jedem Gang. Wie auf ein Signal sanken die äußeren in sich zusammen und die Dunkelheit rückte näher.

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