83 - Nie mehr

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"Und jetzt?" Jolene zupfte an ihrem Haar, das einen Wust aus großen Locken bildete, als hätte sein eigenes Gewicht bisher die Strähnen glatt gezogen. Die dunklen Schatten unter ihren Augen ließen ihr Gesicht älter erscheinen, als es war. Und ihre Augen. Sie sah Victor an und er sah wortlos zurück.

"Weiter", sagte Ruby neben ihm und er musste den Drang unterdrücken, sie anzusehen. Der Selbsthass nagte an ihm.

Er konnte wieder denken. Noch vor wenigen Minuten hatte er nicht gedacht, nur noch gehandelt. Die Panik hatte ihn fast unfähig gemacht, bis Jolene sich einmischte. Auftauchte wie ein Geist aus der Dunkelheit. Ihn zwang, zu reagieren, weil sein Hirn nicht mehr dazu in der Lage gewesen war. In diesem Moment hatte er nicht gedacht, nur gehandelt. Aber jetzt konnte er es. Denken. Und er konnte sie noch fühlen, Rubys sich windenden Körper, wie sie versucht hatte, ihn davon abzuhalten, ihr Leben zu retten. Ihr Leben, das er beinahe beendet hätte. Er hasste sich dafür. Dafür, es beinahe getan zu haben. Dafür, nicht stark genug gewesen zu sein, es tatsächlich zuzulassen. Für die Bilder in seinem Kopf. Für die Stimmen, die darin durcheinander schrien.

Ein ekelerregendes Gewirr von Gedanken über den Riss in ihrem Shirt, der so tief war, dass er den Rand ihres BH's sehen konnte. Das Wissen, was unter all dem Stoff lag. Die Gedanken daran, was er getan hatte. Alles zusammen. Was er gestern getan hatte. Was er wieder hatte tun wollen, bevor er gesehen hatte, wie sie sich hundert mal von ihm töten ließ mit seinem Namen auf ihren Lippen. Bevor er ihr hunderte Male in die Augen gesehen hatte, in dem Glauben, dass es dann einfacher wäre. Sie ansehen, weil keine von ihnen echt war. Und jetzt konnte er nicht mehr aufhören, daran zu denken. Wie er sie immer wieder getötet hatte. Und dass er sie tatsächlich beinahe getötet hätte, weil er sie nicht erkannt hatte.

Er hasste sich dafür.

Ruby streckte die Hand nach ihm aus und Victor wich zurück. Er konnte nicht anders. Er hatte sie fast getötet, weil er sie nicht erkannt hatte, und nichts konnte das ungeschehen machen. Nichts konnte auslöschen, was geschehen war. Was in seinem Kopf immer und immer wieder ablief, ein rasender Film. Bilder, die aufblitzten vor seinen Augen. Er verdiente es nicht. Er verdiente sie nicht. Er hätte es wissen müssen. Sein Großvater hatte es gewusst und hatte ihn rechtzeitig entsorgt. So wie es sein musste. Er verdiente sie nicht und das würde sie noch erkennen. Wenn sie das hier überlebten. Wenn nicht, dann war es auch gut so.

Er wusste, was zu tun war und Ruby wusste es nicht. Sie würde ihn dort hin führen, wo er hin musste und dort würde er es beenden. Jemand von ihnen musste sterben. Würde sterben, wenn sie endlich am Ziel waren. Und er würde es sein. Endlich war es ihm klar. Dann hätte er wenigstens einmal etwas Gutes getan. Vielleicht war das ja sein Schicksal. Hier sterben, so wie sein Großvater ihn vielleicht hatte sterben lassen wollen, schon vor langer Zeit. Warum hatte er sich immer so gewehrt? Sie würde dann frei sein von ihm. Ohne dass er ihr jemals wieder nach lief und sie ins Unglück stürzte. Er hätte es früher erkennen müssen.

Die Stimmen in seinem Kopf schienen zu kreischen, als er sich umdrehte, als hätte er Rubys Bewegung gar nicht bemerkt, hätte sich in genau diesem Moment umdrehen wollen, um die Umgebung zu beobachten, als sie die Hand nach ihm ausstreckte. Er konnte sie nicht ansehen. Nicht ihr schmales, blasses Gesicht mit den großen Augen, die noch größer geworden waren, als er vor ihr zurück wich. Eine Sekunde nur hatte es gebraucht, um die Überraschung in ihrem Blick zu sehen. Alles in ihm schmerzte, als er sich zwang, so zu tun, als wäre alles gut. Als wäre da nicht das Flüstern in seinem Kopf, das ihn dazu bringen wollte, sie wieder anzusehen, ihre perfekte Haut zu berühren, dort wo er ihr Shirt zerrissen hatte in seiner Verzweiflung, ihr die Rune direkt über dem Herzen einzubrennen. Die Stimmen flüsterten in ihm von ihrem schönen, perfekten Körper und davon, wie er sie mit seinem Schwert zerstückelt hatte.

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