60 - Breathe

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Ruby starrte aus den großen Fenstern hinaus auf die Stadt. Heute war das Wetter schön, fast zu schön. Es schien sie hinaus locken zu wollen. Um sie herum wogte Grün, unzählige Gerüche füllten das riesige Gewächshaus und sie verzog entnervt das Gesicht. Viele der Pflanzen kannte sie, aber noch mehr waren ihr unbekannt. Überall steckten kleine Schilder im Boden mit Namen und kurzen Beschreibungen, aber sie würde sich wirklich anstrengen müssen, um sich das alles bis zum Nachmittag zu merken.

Eine Bewegung auf dem Kiesweg erregte ihre Aufmerksamkeit. Da stand jemand, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und hielt dann wieder still, als würde er sich zusammen reißen. Sie ging näher an die Scheibe, um ihn besser zu sehen - die Fenster mussten wirklich mal wieder geputzt werden, dachte sie mit einer Grimasse - und versuchte seine Züge zu erahnen. Braunes, gelocktes Haar. Etwas blitzte golden, als er den Kopf drehte. Eine Brille. "Simon!", entfuhr es ihr überrascht.

Jolene neben ihr richtete sich neugierig auf. "Meinst du?", fragte sie und presste ihr Gesicht gegen das Glas.

"Wer ist Simon?", fragte Victor, er war ganz plötzlich neben ihr aufgetaucht und starrte grimmig hinaus. Jolene grinste spöttisch, aber Ruby beachtete ihn gar nicht.

"Das ist so ein komischer Typ, der uns gestern nachgelaufen ist", erklärte Jolene an ihrer Stelle. "Echt seltsam. Er sagte, sie soll ihre Eltern von ihm grüßen."

Eine zweite Gestalt tauchte auf, eine Frau mit wehendem schwarzem Haar, die energisch den Weg entlang auf Simon zu marschierte. Isabelle. Ein paar Meter vor ihm blieb sie stehen.

"Ich würde zu gern wissen, was die zu besprechen haben", murmelte Jolene.


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Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie in den Aufzug stieg. Wütend hämmerte Isabelle auf den Knopf, obwohl die Türen sich schon zu schließen begannen. Dreiunddreißig Sekunden bis nach unten, dachte sie mechanisch. Siebzehn, um das Kirchenschiff zu durchqueren.

An der Pforte hielt sie inne. Die schwere Holztür war nur angelehnt, Sonnenstrahlen schmuggelten sich durch den Spalt. Ihre Finger zitterten und sie ballte die Hand zur Faust, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte, dann schob sie den Türflügel auf.

Sie erkannte ihn sofort, er stand etwa auf halber Strecke zum Institut und starrte am Gebäude hinauf. Er hatte sie noch nicht gesehen und sie versuchte ruhig zuatmen. Versuchte, überhaupt zu atmen. Ein irrsinniges, warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, während sie sein Gesicht musterte. Er sah anders aus und gleichzeitig war er noch genau der selbe.

Sekundenlang blitzte das Bild von Edward vor ihr auf: als Simon, der Vampir. Sie sah ihn im kalten Mondlicht stehen, weiße Haut und blitzende Zähne. Aber die Sonne schien, und Simon war schon lange kein Vampir mehr.

Sie stieß sich vom Holz ab und ging auf ihn zu. Er sah sie immer noch nicht, erst nach ein paar Schritten, als ihre Stiefel auf dem Kies zu knirschen begannen. Seine Augen weiteten sich, als er sie erkannte. Überrascht. Ängstlich. Hoffnungsvoll. Ein paar Meter vor ihm blieb sie stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Herz raste immer noch, aber jetzt schmerzte es, wie ein stacheliger Ball aus Hitze und Wut in ihrer Brust.

"Hallo", sagte er leise. Seine Stimme klang dunkler als damals, und seine sparsamen Bewegungen waren ihr so vertraut, dass sie ihn dafür hasste.

"Was willst du?", fuhr sie ihn an, gerade als ein Lächeln auf seinem Gesicht erschien, und es schwand so plötzlich, wie es gekommen war.

"Ich weiß nicht", sagte er, lauter jetzt. Es klang ehrlich gemeint. "Etwas zieht mich her, seit einer ganzen Weile..."

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