Jocelyn rannte. Mommy! Das Wort dröhnte in ihren Ohren. Sie hatte kaum etwas verstanden, doch dieses eine Wort war genug gewesen. Es drang durch den Hörer, ein gequältes Flüstern. Ein Wimmern. Sie hatte noch niemals in ihrem Leben etwas Schrecklicheres gehört, als dieses eine hilflose, bettelnde Wort. Ihre Tochter hatte Schmerzen. Ihr Kind. Sie konnte kaum denken.
Sie hätte ein Taxi genommen, wollte so schnell wie möglich in die Stadt, aber es gab keines. Sie hatte die U-Bahn nehmen müssen. Alle schienen irre geworden zu sein. Vielleicht lag es am Mond. Vermutlich aber eher an dem Wahnsinn, der heute Nacht stattfand. Sie wusste nichts genaues. Hatte sich nicht beteiligen wollen. Sie war alt. Sie fühlte sich alt. Gerade jetzt, als sie mit pumpenden Muskeln, mit keuchenden Lungen, über den Gehweg rannte, fühlte sie sich wie hundert. Aber dieses Wort hielt sie aufrecht.
Mommy.
Clary hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr so genannt. Und obwohl ihre Beine schmerzten, obwohl jede Faser ihres Körpers protestierte, machte sie weiter. Das Institut lag vor ihr, schwankte vor ihrem Blick, während sich ihre Schritte noch beschleunigten, als sie es endlich sah. Die Station lag nicht weit entfernt, aber es fühlte sich an wie ein anderer Kontinent.
Als sie durch das Tor schoss, trat ihr jemand in den Weg und obwohl Jocelyn ihn am liebsten fort gestoßen hätte, zwang sie sich, langsamer zu werden. Sie wollte nicht, aber etwas in ihr sagte ihr, dass man sie nur noch mehr aufhalten würde, wenn sie einfach den Schattenjäger, der sich jetzt vor dem Eingang aufbaute, beiseite stieß.
"Jocelyn Fairchild!", keuchte sie und ballte die Hände zu Fäusten, um sich nicht wie eine alte Frau an die Brust zu greifen, um ihr jagendes Herz zu beruhigen. Sie war eine alte Frau. "Ich muss hinein, ich muss..."
Sein unsteter Blick glitt über sie hinweg, er hatte schon bei der Nennung ihres Nachnamens das Interesse verloren. Sie gehörte dazu, egal wie alt sie war. Schattenjäger blieben Schattenjäger. Und sie hatte gewusst, dass ihr alter Name ihr die Türen öffnen würden. Sie sah, wie seine Augen sich wieder auf die Stadt richteten, die ruhig, nur durchbrochen von dem üblichen Lärm, vor ihnen lag. Fast hätte man glauben können, dass es nur ein ganz normaler Abend war. Wenn man kein Schattenjäger war. Wenn man nicht spürte, dass unter der Ruhe etwas lag, etwas lauerte. Wenn man es nicht besser wusste.
"Ausrüstung in der Waffenkammer", knurrte er. Er sah sie nicht mehr an. Alles in ihm schien sich danach zu sehen, sich in den Kampf zu stürzen. Sie konnte erkennen, dass er jung war, als sie ihn genauer musterte. Jung und energiegeladen und unwillig, hier zu stehen, auf dem Posten, den man ihm vermutlich aufgezwungen hatte, um ihn aus den Kämpfen fern zu halten. Wäre sie nicht so abgelenkt gewesen, hätte sie ihm vielleicht ansehen können, zu welcher Familie er gehörte, aber so...
"Danke", presste sie hervor, obwohl selbst diese zwei Sekunden ihr wie verschwendete Zeit vorkamen, und betrat die Kathedrale. Er blieb hinter ihr zurück, nahm seine unruhigen Wanderungen wieder auf. Sie konnte seine Schritte noch auf dem Kies des Weges knirschen hören, als sie den Aufzug erreicht hatte und unruhig den Knopf drückte. Es dauerte alles viel zu lange, obwohl die Türen sich beinahe sofort öffneten.
Die Gänge wirkten wie ausgestorben, als sie hinaus stürmte, sobald sie oben angekommen war, noch ehe die Türen sich erneut ganz geöffnet hatten. Vielleicht wäre sie in die falsche Richtung gerannt, doch ihr Instinkt zog sie unfehlbar weiter. Zu Clary. Ihrer Tochter. Sie glaubte, sie hören zu können. Ein leises Wimmern. Einen gequälten Aufschrei.
Als sie die Tür zu dem kleinen Appartement öffnete, in dem Clary und Jace jetzt wohnten, schlug ihr ein durchdringender, kupferartiger, süßlicher Geruch entgegen, nach Blut und Fruchtwasser. Clary wimmerte erneut, als sie die Tür hörte, und ihr Kopf drehte sich. Ihr rotes Haar klebte an ihrer schweißfeuchten Haut. Sie hatte eine Hand auf den Bauch gepresst, mit der anderen umklammerte sie noch immer das Telefon. Ihre Sachen waren von Blut durchtränkt.
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Right by your Side
FanfictionWas macht man, wenn man trotz einer Extraportion Engelsblut keine besonderen Fähigkeiten hat? Zum ersten mal verknallt und todunglücklich im öden Alicante zögert Ruby (fast) gar nicht, als sie die Chance bekommt, ins New York Institut zu wechseln. U...