"Hey!", sagte Suzie, als sie an seinen Tisch kam. Sie lächelte, als sie ihn wartend ansah. Sie lächelte immer, aber ihm war irgendwann einmal aufgefallen, dass sie sich tatsächlich freute, ihn zu sehen. Das mochte daran liegen, dass er seit fast einem Monat jeden Tag hier her kam, stundenlang da saß, ein Buch las, sie nie unhöflich anmachte, so gut wie nichts bestellte, aber immer ein gutes Trinkgeld gab.
"Das übliche?", sie wartete sein Nicken kaum ab und rauschte schon davon, während er das Buch aufschlug. Er versuchte seit einem Monat, es zu lesen. Er versuchte sich seit einem Monat einzureden, dass er es lesen wollte, und nur einen ruhigen Ort brauchte, während bei ihm daheim schlechte Stimmung herrschte. Er versuchte sich einzureden, dass er daheim weiterlesen würde, wenn sie endlich ausgezogen war.
Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass er die hohen, verfallenen Türme, die gerade noch über dem Dach des kleinen Restaurants hervorblitzten, heute genauso gut sehen konnte, wie gestern. Und vorgestern. Und an den Tagen davor. Er hatte auch schon versucht sich einzureden, dass er einfach diesen gotischen Stil mochte. Und dass er sich nicht unwohl fühlte, wenn dieser Fensterplatz, den er immer ansteuerte, einmal belegt war. Dass er sich nicht umsetzte, sobald der Tisch frei wurde.
"Hier bitte, ein Mocca Latte", sagte Suzie grinsend und stellte sein Getränk ab. Sie hatte ihm sogar wie zufällig zwei von diesen abgepackten Plätzchen auf den Teller gelegt und er fragte sich, ob sie ihn wohl süß fand und das ihre Art von Flirt sein sollte. Sie lächelte so. Und seit sie mitbekommen hatte, dass er hier täglich auftauchte, hatte sich etwas an ihrem Aussehen geändert, als würde sie plötzlich viel mehr Gewicht auf ihre Frisur und ihr Make up legen.
Sie war wirklich süß in ihrer hellblauen Uniform, die ihre Augen betonte, dazu das weiße Schürzchen. Hübsch war sie auch und nicht dumm, was er festgestellt hatte, als sie sich an einem ruhigen Abend mal ein wenig länger mit ihm unterhielt. Aber auch heute schenkte er ihr nur das übliche, leere Lächeln und wie immer war ihr eigenes Lächeln etwas gezwungener, als sie ging. Aber morgen würde sie es wieder versuchen.
Automatisch glitten seine Augen zu den Türmen zurück, als müsste er sich vergewissern, dass sie noch da waren. Sie waren es. Verfallen und alt, schwarz von den Jahren. Aber er war sicher, wenn er sich nur genug anstrengte, oder lange genug wartete, dann könnte er es wieder so sehen, wie in dieser einen Nacht: golden schimmernder Sandstein, bestrahlt von einem Licht, das aus keiner wirklichen Quelle zu kommen schien.
Er schlug das Buch auf und begann zu lesen, doch er sah die Worte kaum, während seine Hand mechanisch die Seiten umblätterte, immer im richtigen Abstand, als würde er tatsächlich lesen. Ein Blick aus dem Fenster, sie waren noch da. Düster wie immer. Aber es würde sich ändern. Und vielleicht brachte er dann auch den Mut auf, wieder dort hin zugehen.
Draußen begann es zuregnen.
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Ich kann nicht mehr, dachte Ruby angestrengt. Ihre Arme zitterten, ihre Muskeln waren wie Gummi, und gleichzeitig steif von der Anstrengung, wie fest gefroren. Sie wusste, wenn sie nur noch einmal mehr die Arme beugen musste, würde sie einfach nicht mehr hochkommen. Sie würde zusammen brechen.
Wasser lief ihr aus den Haaren und in den Kragen hinein, als sie die Beine anwinkelte und sich schwerfällig hinsetzte. Sie spürte es kaum, so durchnässt war sie. Ihre Haut schmerzte von der Kälte, aber innerlich fühlte sie sich heiß vor Anstrengung. Fast konnte sie Jace schon hören: Wer hat gesagt, dass du aufhören sollst?
Aber er sagte es nicht und sie beobachtete stumm die beiden Männer, ihren Vater und Victor, die sich ihren schwachsinnigen Wettkampf lieferten.
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Right by your Side
FanfictionWas macht man, wenn man trotz einer Extraportion Engelsblut keine besonderen Fähigkeiten hat? Zum ersten mal verknallt und todunglücklich im öden Alicante zögert Ruby (fast) gar nicht, als sie die Chance bekommt, ins New York Institut zu wechseln. U...