Kapitel 67 ~ Spes dimitte

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Schreiend fuhr Aurelia aus dem Schlaf hoch. In der nächsten Sekunde stürzte Clemens mit gezogenem Schwert in ihr Zimmer und scannte mit seinem Prätorianerblick den Raum nach möglichen Angreifern ab, während Aurelia versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Im nächsten Moment entspannte sich Clemens und warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Seit sie hier angekommen war, schrak sie jede Nacht schreiend aus ihren Albtraumen auf. Ihren Mädchen und Clemens hatte sie verboten jemandem davon zu erzählen – vor allem Gaius. Fahrig strich sie sich ihre verschwitzten Haare aus dem Gesicht und schloss die Augen, während sie versuchte die Bilder ihres Traumes aus ihren Gedanken zu verbannen. Doch es gelang ihr nicht. Sie konnte die Hitze der Flammen immer noch auf ihrem Gesicht spüren.
„Welchen Tag haben wir heute?", fragte sie und ihre Stimme klang seltsam gefühllos. Kurz herrschte Schweigen, dann antwortete Clemens überrascht: „Vier Tagen vor den Iden des Junis"
Aurelia begann die Tage in ihr altes Schema umzurechnen. Heute war also der 10. Juni 38 nach Christus. Warum kam ihr dieses Datum nur so bekannt vor? Nachdenklich schlug sie die Augen auf und wich Clemens fragendem Blick aus. Stattdessen betrachtete sie die Sonne, die zwischen den beiden Bergen hindurchbrach. Automatisch hob sie die Hand schützend vor die Augen und mit einem Schlag saß sie wieder an ihrem Schreibtisch und analysierte an ihrem Laptop den Stammbaum der julisch-claudischen Dynastie. Heute würde Drusilla sterben. Mit einem Seufzen vergrub Aurelia das Gesicht in den Händen. Ihr Kopf spielte ihr sicher nur wieder einen Streich. Drusilla konnte heute nicht sterben. Die Drusilla, über die sie damals gelesen hatte, war ganz plötzlich gestorben und sie hatte im Internet auch nicht herausfinden können, woran sie gestorben war. Woran sollte Drusilla dann heute sterben?
„Ruf bitte meine Mädchen, Clemens", murmelte Aurelia nachdenklich und beobachtete den Sonnenaufgang. „Ich glaube nicht, dass ich jetzt noch einmal Schlaf finden werde"
Leise Schritte gaben Aurelia zu verstehen, dass Clemens ihrer Bitte nachkam. Einige stille Minuten genoss sie die wunderschönen Farben des morgendlichen Himmels, während das Kind in ihrem Bauch aufwachte und sie zu treten begann. Lächelnd legte Aurelia die Hand auf ihren Bauch.
„Ich kann es kaum erwarten dich kennenzulernen", flüsterte sie ihrem Bauch zu und prompt wie um ihr zuzustimmen trat das Kind erneut. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter, dann wandte sie sich wieder dem wunderschönen Sonnenaufgang zu. Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut und ihre Mädchen betraten leise ihr Schlafzimmer. Immer noch lächelnd drehte sie sich zu ihnen und winkte sie zu sich.
„Bitte setzt euch einen Moment zu mir", bat sie. Kurz darauf saßen sie zu dritt auf ihrem Bett und betrachteten schweigend, wie die Sonne am Himmel immer höher stieg. Nach einer Weile stand Nara auf, eilte zum Schminktisch und kehrte mit einem Kamm bewaffnet zurück zum Bett. Aurelia schloss die Augen und vertraute ihren Mädchen.
Keine Stunde später streifte sie ruhelos durch die Villa. Obwohl sie versucht hatte sich die unruhige Nacht vom Körper zu waschen, war sie immer noch unruhig und sie wurde das Gefühl nicht los, dass heute etwas Schreckliches geschehen würde. Mit einem Seufzen trat sie hinaus auf die Terrasse, doch selbst das warme Kitzeln der Sonne auf ihrer Haut konnte ihre düstere Stimmung nicht vertreiben.
Seit sie Rom hinter sich gelassen hatte, fühlte sie sich verloren und abgeschnitten vom Rest der Welt. Der Senat würde erst in einem Monat in seine Sommerpause starten, weshalb die benachbarten Villen alle noch nicht bezogen waren und die Familien, die das ganze Jahr über in diesem Dorf lebten, waren gesellschaftlich nicht in der Stellung, dass sie Aurelia besuchen durften und Aurelia konnte sie nicht besuchen, weil sie das Haus nicht weiter als Sichtweite verlassen sollte. Obwohl sie niemanden zu Gesicht bekam, der nicht zu ihrem Hausstand gehörte, fühlte sie sich dennoch nicht vollkommen allein. Wie sollte sie sich auch allein fühlen, wenn ein kleiner Tritt sie daran erinnerte, dass sie es nicht war? Dennoch fehlten ihr die Gespräche mit ihren Freundinnen, aber vor allem sehnte sie sich nach Gaius' Nähe. Freudlos betrachtete Aurelia die wunderschönen Blumen, die den Garten schmückten und deren Namen sie nicht kannte. Sie kamen ihr noch nicht einmal bekannt vor. Wahrscheinlich gab es sie in ihrer Zeit nicht mehr. Behutsam fuhr sie mit den Fingerspitzen über ein Blütenblatt, bevor sie die Blüte pflückte und ihren süßen Duft einatmete.
Zu früh. Drusillas Wehen setzten viel zu früh ein, weder sie noch das Kind überlebten. Tauchte plötzlich eine Stimme in ihren Gedanken auf und vor Schreck ließ Aurelia die Blüte auf den Boden fallen. Ihr Herz begann zu rasen, als sich Bilder in ihrem Kopf formten - Bilder einer Dokumentation über Caligula. Immer wieder wisperte die Stimme des Erzählers seinen Text und sein neutraler Tonfall wurde mit jedem Mal hämischer.
Plötzlich legte sich eine Hand auf ihren Oberarm und vor Schreck schrie sie auf. Langsam tauchte sie aus ihren Erinnerungen auf und blinzelte in Clemens besorgtes Gesicht.
„Alles in Ordnung?", fragte er sie leise und Aurelia schüttelte gehetzt den Kopf.
„Ich muss sofort zurück nach Rom", erklärte sie und nun war es Clemens, der den Kopf schüttelte. Dann begann er auch schon sie an Gaius' Befehle zu erinnern und mit jedem Wort wurde Aurelia wütender. Auf Clemens, auf Gaius, auf Rom, auf sich selbst.
„Seit ich die Augen aufgeschlagen habe, habe ich das Gefühl, dass heute etwas Schreckliches geschehen wird!", fuhr sie Clemens an, der ließ sie sofort los, als hätte er sich an ihr verbrannt. Irritiert blinzelte er sie an, aber sie kam gerade erst in Fahrt. „Ich habe es satt wie eine Exilantin hier zu sein, während meine ganze Familie in Rom ist! Ich habe es satt in meinem Zuhause eine Gefangene zu sein! Ich kann noch nicht einmal einen Spaziergang machen und ich werde mich nicht länger hier einsperren lassen! Wenn Gaius mich hier länger festhalten will, hätte er mich von Anfang an begleiten müssen und mir nicht einen Prätorianerpräfekten als Kindermädchen mitgeben sollen! Ich werde keinen Augenblick länger hierbleiben, also bereite die Kutsche vor, sonst nehme ich das nächstbeste Pferd und reite alleine nach Rom!"
Schnaubend vor Wut machte sie auf dem Absatz kehrt und stapfte zurück in die Villa. In ihrem Zimmer waren Belana und Nara bereits damit beschäftigt ihre Sachen zusammenzupacken. Ein Sklave eilte herbei und reichte ihr mit gesenktem Blick einen Becher Saft. Zitternd schlossen sich ihre Finger um den Becher. Mit langen Schritten trat sie ans Fenster und beobachtete das emsige Treiben im Innenhof. Aufgescheuchte Sklaven huschten zwischen den Säulen hindurch und zum ersten Mal an diesem Tag konnte Aurelia sich ein kleines bisschen entspannen. Müde schloss sie die Augen und holte tief Luft, dann setzte sie den Becher an ihre Lippen und trank. Ein sehr anstrengender Tag lag vor ihnen und sie betete, dass sie sich irrte und ihre Reise umsonst sein möge.

Gegen Mittag ratterte ihre Kutsche am nächsten Tag durch das Tor und sie schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel, dass ihre Kutsche auf den vollgestopften Straßen Roms schnell vorankommen würde, ohne jemanden zu verletzen. Eigentlich hätten sie bereits vor Stunden in Rom sein können, aber Clemens hatte bei Einbruch der Nacht darauf bestanden, dass sie erst am nächsten Morgen weiterreisen würden. Ihren müden Protest hatte er überhört. Nun, da sie wieder in Rom war, wuchs ihre Unruhe und das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Sie riskierte keinen Blick durch die Vorhänge. Fuhrwerke und Kutschen durften in Rom normalerweise nur nachts fahren. Es hatte durchaus seine Vorzüge zur ersten Familie Roms zu gehören.
Eine Stunde später kam die Kutsche endlich zum Stehen und Aurelia betete ein letztes Mal, dann wurde die Tür aufgerissen und sie stieg aus, wobei sie Clemens' Hand beflissentlich ignorierte. Sie war immer noch wütend auf ihn, obwohl sie wusste, dass er nur seine Befehle ausführte und ihre Wut nicht verdiente.
Sobald sie das Atrium betrat, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Es war zu still. Ihre von den hohen Wänden hallenden Schritte bildeten das einzige Geräusch, das sie hörte. Mit klopfendem Herzen stieg sie die Treppe empor, als plötzlich Agrippina auf dem Treppenabsatz auftauchte. Ihr Gesicht war bleich und sie hatte tiefe Ringe unter den Augen, als hätte sie letzte Nacht kein Auge zugemacht. Aber ansonsten wirkte sie wie immer. Ihre Haare waren ordentlich frisiert und ihre Kleidung saß tadellos. In diesem Moment war Aurelia sich sicher, dass ihre Befürchtungen umsonst gewesen waren und innerlich legte sie sich die Worte schon zurecht, die sie Gaius sagen würde. Dann begegnete Agrippina ihrem Blick, öffnete den Mund und brach in Tränen aus. Mit wenigen Schritten war Aurelia bei ihrer Freundin und schloss sie in die Arme. Wirre Worte sprudelte aus Agrippina, während Aurelia sie einfach nur festhielt. Was sollte sie auch sagen, um ihre Freundin zu trösten? Langsam beruhigte sich Agrippina und Aurelia zog sich ein Stück zurück.
„Wo ist Gaius?", fragte Aurelia und Agrippina schluchzte erneut auf. Dann rieb sie sich unwirsch die Tränen aus dem Gesicht.
„Er hat sich schon seit Stunden in seinen Gemächern eingeschlossen", antwortete Agrippina und den Rest blendete Aurelia aus. So schnell sie konnte eilte sie durch die vertrauten Gänge und nahm nichts wahr abgesehen von ihrer Angst um Gaius. Vor ihren Privatgemächern standen zwei einfache Prätorianer und versperrten ihr den Weg.
„Wir haben den Befehl niemanden einzulassen", erklärte der Rechte und sofort kochte das Blut in ihren Adern.
„Sehe ich etwa so aus, als wäre ich niemand?", schrie sie den Mann an, der sie voller Unbehagen von Kopf bis Fuß musterte. „Macht sofort die Tür auf oder ich sorge dafür, dass Ihr die nächsten Monate Latrinendienst habt!"
Zu ihrer Überraschung zeigte diese Drohung bereits Wirkung. Sie wollte ihm gerade vorschlagen ihn bei den nächsten Spielen um ihre Vergebung kämpfen zu lassen, als sich die Türen öffneten und sie ohne ein weiteres Wort an den beiden Männer vorbeirauschte. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter ihr ins Schloss und sie brauchte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Die Luft war drückend heiß und stickig. Jemand hatte die Fenster geschlossen und alle Vorhänge zugezogen. Im Wohnbereich waren alle Möbel wütend umhergeworfen worden und die Szene erinnerte sie daran, wie sie sich das Hotelzimmer eines zugedröhnten Rockstars vorstellte. Voller Sorge betrat sie den nächsten Raum. Im Arbeitszimmer herrschte ebenfalls das reinste Chaos, als hätte ein heftiger Sturm alle Dokumente durcheinander gewirbelt und kreuz und quer im ganzen Raum verteilt. Von Gaius fehlte noch immer jede Spur. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Angst und Sorge schnürten ihre Kehle zu. Mit einem lauten Knall riss sie die Schlafzimmertür auf und rannte in den Raum. Das Erste, was sie registrierte, war die Ordnung. Im Gegensatz zu den anderen Zimmern war dieses in dem gleichen Zustand, in dem sie es verlassen hatte. Dann drang ein leises Wimmern an ihre Ohren. Sofort drehte sie den Kopf zu diesem Geräusch und ihr Herz zersprang bei seinem Anblick in tausend kleine Teile.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt