Kapitel 39 ~ Prima luce

1.3K 67 15
                                    

Langsam färbte sich ein kleiner Punkt im Osten des Himmels zu einem immer tieferen Rot. Als Aurelia auf seinen Wunsch hin die Augen aufschlug, brach im selben Moment die Sonne zwischen den Hügeln hervor und der erster Strahl des neuen Tages hüllte sie beide in warmes, gelbes Licht. Aurelias einfach zurückgebundenes Haar blitze auf wie poliertes Gold im Feuerschein. Ihre Augen weiteten sich vor Staunen und ihr Mund öffnete sich leicht, während unter ihnen ihre Stadt erwachte.
Prima luce", flüsterte sie verzückt und lächelte versonnen. Verträumt murmelte sie mehr zu sich selbst, dass sie nun diese Redensart verstand. Denn in Rom erwachte das Leben buchstäblich mit dem ersten Sonnenstrahl. Aber Gaius hatte sie nicht zu dieser frühen Stunde heraufgeführt, um ihr eine geläufige Redewendung zu demonstrieren.
„An meinem sechsten Geburtstag weckte mich mein Vater mitten in der Nacht und wir schlichen uns gemeinsam mit meinen älteren Brüdern durch die Stadt", erklärte Gaius und Aurelia erwiderte lächelnd seinen Blick. Interessiert schob sie ihre freie Hand unter das Kinn und stützte ihren Ellenbogen auf ihrem Knie ab. „Mein Vater konnte aus jeder Situation ein Abenteuer machen und wir Kinder haben ihn vergöttert. Wenn er Zeit hatte, spielte er mit uns die lustigsten Spiele. Als an jenem Morgen die Dämmerung hereinbrach, setzten wir uns auf ebendiese Stufe. Mein Vater befahl uns die Augen zu schließen und als er bemerkte, dass ich immer wieder heimlich durch einen kleinen Spalt linste, setze er mich lachend auf seinen Schoß und hielt mir mit seinen großen, vom Krieg rauen Händen die Augen zu. Von da an war es mir unmöglich zu schummeln. Nach einer Ewigkeit entfernte er endlich wieder seine Hände von meinen Augen und erlaubte uns zu sehen. Die Sonne ging am Horizont auf und was ich erblickte, übertraf alles andere. Bei unserer Ankunft hatte ich zwar einen ersten, kurzen Blick auf Rom erhaschen können, aber von ihrer Größe war ich derart erschlagen, dass ich ihre Schönheit verkannt hatte. Mein Vater sagte zu uns, dass wir ab dem heutigen Tage zwei Möglichkeiten hätten: Rom zu dienen oder von Rom verschlungen zu werden. Meine Brüder hat diese Stadt bereits verschlungen und bevor du am Strand von Capri aufgetaucht bist, wusste ich, dass Rom auch mich bald vernichten würde. In meinem ganzen Leben habe ich an keinem anderen Ort ebenso viel Schönheit wie Verdorbenheit gesehen – abgesehen vielleicht von Capri, das zu diesem Zeitpunkt allerdings für mich ein losgelöster Teil Roms war. Ohne dich hätte ich früher oder später das gleiche Schicksal erlitten wie mein Vater und meine Brüder. Aber gemeinsam können wir einfach alles erreichen und alles überstehen"
Voller Liebe blickte sie zu ihm herauf, beugte sich vor und küsste ihn sanft. Irgendwann lösten sie sich voneinander und betrachteten den wunderschönen Sonnenaufgang. Aufgeregt deutete Aurelia immer wieder auf irgendwelche Gebäude und Stadtviertel, die Gaius ihr geduldig erklärte. Ihre Begeisterung bewegte ihn zutiefst. Seine Verlobte hatte sich in seine Stadt verliebt und Gaius hatte vor sie in ihre Stadt zu verwandeln. Denn auch wenn sie die alten Schranken nach und nach gemeinsam einreißen mussten, eines Tages würden sie Seite an Seite herrschen.
Nach einer halben Stunde stupste er Aurelia sanft an und wollte von ihr wissen, ob sie bereit für das nächste Abenteuer war. Ihre Augen funkelten voller Freude, als sie nickte. Lächelnd zog er sie mit sich auf die Füße und deutete auf den Eingang des Tempels hinter sich.
„Dann lass uns zuerst den Göttern danken, dass sie uns zusammengeführt haben", meinte er vergnügt und zog sie lächelnd mit sich in die erhabene Stille des Tempels. Als Gaius sich aus Gewohnheit eine Falte seiner Toga über den Kopf ziehen wollte, griff er ins Leere und musste beinahe über seine eigene Unachtsamkeit lachen. Im selben Moment als er bereits über seine tiefe Pietas scherzen wollte, durchfuhr seinen rechten Arm ein kleiner Ruck nach hinten. Sofort hielt er an und konzentrierte sich wieder auf seine wunderschöne Begleitung.
Auf der Schwelle war Aurelia wie vom Donner gerührt stehen geblieben und starrte nun mit offenem Mund die Statuen der drei Götter an. Gaius hatte gar nicht lange überlegen müssen, womit er ihre kleine Besichtigungstour beginnen würde. Der Kapitolinische Tempel war der göttlichen Trias – Jupiter, Juno und Minerva – geweiht und in seinem Leben hatte Gaius bisher kaum einen heiligeren und faszinierenderen Tempel betreten. Wenn man eintrat, blickte man direkt in das bemalte Gesicht des Obersten aller Götter. Im Zwielicht des Tempels schien er auf die Sterblichen hinabzublicken und absolute Verehrung einzufordern. Vor ihm befand sich sein eleganter Altar. Darauf stand ein Kohlebecken, dessen träg glühende Glut auf das nächste Opfer zu warten schien. Auf der linken Seite befand sich die Statue seiner Frau Juno, die wie Minerva zu Jupiters Rechten ihren eigenen Bereich einnahm. Natürlich wurden auch sie durch Farbe menschlicher. Ihre Altäre wirkten zwar weniger massiv, aber nicht winzig.
Aurelia klappte mühsam ihren Mund zu und näherte sich den Götterbildern. Gaius, der immer noch ihre Hand fest umschlossen hielt, passte seine Schritte an die ihren an und versuchte diesen Ort mit ihren Augen zu sehen. Vor Jupiters Altar blieb sie stehen und legte den Kopf in den Nacken, um die riesige Statue zu betrachten. Geräuschlos zog Gaius ein Bündel Salbei und Weihrauch aus seiner Tasche und reichte es Aurelia. Diese schien aus einem Traum zu erwachen. Mit großen Augen blickte sie ihn an.
„Möchtest du das Gebet sprechen?", fragte er leise und sie murmelte, sie wisse doch gar nicht, wie das funktionieren würde. Beruhigend erklärte Gaius, dass sie bei dieser Art Gebet einfach aus dem Herzen sprechen konnte und zögerlich griff sie nach den Kräutern. Nachdenklich drehte sie diese in der Hand und ihr Blick huschte wieder zu Jupiter hinauf. Dann nickte sie.
„Oh ihr Götter", begann sie mit ruhiger Stimme. „Wer auch immer von euch uns beide zusammengebracht hat – wir danken dir. Durch dich haben wir die Chance auf ein gemeinsames Leben erhalten, dass hoffentlich lang und glücklich sein wird. Ich verspreche, dass ich alles dafür tun werde meine Chance zu nutzen"
Ohne zu zögern warf sie die Kräuter ins Feuer, das augenblicklich in einer großen, blauen Flamme aufleuchtete und sofort erfüllte ein angenehmer Geruch die Luft. Gaius meinte kurz eine salzige Brise auf dem Gesicht zu spüren, dann wurde die Flamme im nächsten Moment kleiner und er war sich sicher, dass er sich den Geruch nur eingebildet hatte. Die Gestalt einer hochgewachsenen Frau im Schatten einer Säule hinter ihnen bemerkte er nicht. Stolz lächelte er auf seine Verlobte herab und im Stillen gelobte er vor allen Göttern, seine Chance mit Aurelia zu nutzen. Er gelobte, dass seine Pläne für ihr gemeinsames Leben nicht nur Hirngespinste bleiben würden. Gemeinsam würden sie diesen Staat zum besseren verändern und die Fehler seiner Vorgänger beheben.
Sein Blick fiel auf Junos erhabenes Gesicht. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen schien sie auf ihn zu warten und plötzlich tauchte ein Gedanke in seinem Kopf auf, der ihn begeisterte. Dieser Tag gehörte nur ihnen allein. Warum sollten sie das nicht für sich nutzen?
Hastig griff er in seine Tasche und ertastete erleichtert ein weiteres Kräuterbündel, obwohl er sich sicher war nur eins eingesteckt zu haben.
„Aurelia?", raunte er leise und sofort trafen sich ihre Blicke. „Heirate mich"
Verwirrt runzelte sie die Stirn und erwiderte, dass er selbst den Termin ihrer Hochzeit auf die Kalenden des Oktobers in sechs Tagen gelegt habe. Aufgeregt schüttelte Gaius den Kopf.
„Nein, du verstehst mich falsch", meinte er. „Heirate mich jetzt. Hier. Nur wir beide mit den Göttern als unsere Zeugen. Ich will dich heiraten, weil ich dich liebe und wenn wir für das Volk aus unserer Hochzeit ein großes Fest inszenieren müssen, werden unsere Gefühle vielleicht auf der Strecke bleiben. Deshalb heirate mich jetzt"
Statt zu antworten stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn leidenschaftlich. Kurz vergaß er, wo sie sich befanden und verlor sich in ihr. Als sie sich lächelnd voneinander lösten, schritten sie eilig zu Junos Altar hinüber und stellten sich einander gegenüber auf. Leise begann Gaius ihr das einfache Ritual zu erklären, welches das Herzstück einer jeden römischen Hochzeit bildete. Nervös beugte er sich vor und zog Aurelia das schlichte Band aus den Haaren, die sich sofort wie ein Brautschleier über ihre Schultern ergossen und ihr schönes Gesicht sanft umrahmten.
Behutsam ergriff er ihre Hand und verband ihre verschlungenen Hände mit Aurelias Haarband. Voller Liebe blickte Aurelia zu ihm auf.
„Wo du Gaius bist, bin ich Gaia", verkündete Aurelia zärtlich und kurz verzogen sie beide zeitgleich ihre Lippen zu einem ironischen Lächeln. Was für ein Zufall, dass man sich damals ausgerechnet für seinen Vornamen für dieses Ritual entschieden hatte. Rasch warf er das Bündel in die Flammen, dann schnappte er sich seine Frau und küsste sie wie noch nie zuvor. In diesen Kuss legte er seine ganzen Gefühle und er spürte, wie sich ihre Seelen unwiderruflich miteinander verbanden. Sie war sein zweites Ich. Von ihrer reinen Liebe und ihrem puren Glück berauscht lösten sie sich voneinander und verließen Hand in Hand den Tempel hinein in ihr nächstes Abenteuer. Amphitrite blickte ihnen glücklich lächelnd nach und wischte sich eine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel. Nur zu gern erfüllte sie die Gebete ihrer beiden Lieblinge und schenkte ihnen ihren Segen.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt