14. August 44 n. Chr.
Mit einem dumpfen Dröhnen hallte das Signal durch das ganze Lager und über die weite Ebene des Geländes. Unter seinen Füßen knirschten die kleinen Steine des Weges, während Gaius entschlossen zu seinem Zelt stapfte. In wenigen Minuten würde sein Stab dort zu ihm stoßen und er hatte noch einiges zu erledigen, bevor sie eintrafen. Auf seinem Weg begegnete er mittlerweile vertrauten Gesichtern bekannter Gestalten, die respektvoll in ihrer Arbeit innehielten und salutierten. Aber an diesem Tag konnte er sich nicht die Zeit nehmen kurz bei ihnen zu verweilen und mit ihnen ein paar Worte zu wechseln. Denn auch wenn er die Meisten nicht beim Namen kannte, so konnte er ihnen nicht in die Augen sehen, solange ihr Schicksal so ungewiss war. Als Feldherr musste er Entscheidungen über Leben und Tod treffen und wenn er am Vorabend einer Schlacht durch das Lager lief, fragte er sich, wen er wohl für Roms Sieg opfern musste. Zwar war es sein Bestreben die Verluste so gering wie möglich zu halten, aber dennoch würde es auch auf ihrer Seite Verluste geben. So war einfach die Natur des Krieges und an manchen Tagen fragte er sich, wer ihm das Recht gegeben hatte, solche Entscheidungen zu treffen und in das Schicksal eines jeden Einzelnen seiner Soldaten derart einzugreifen.
Ein großer Teil von Gaius sehnte sich nach dem Frieden und der Abgeschiedenheit seiner Villa auf Dianium. Er vermisste seinen Sohn, der ihm mittlerweile sogar erste, kleine Briefe schrieb. Nichts erfüllte sein Herz mehr mit Stolz und Kummer zugleich, als die Fortschritte seines Julius zu sehen. Er sehnte sich danach seine kleine Tochter endlich kennenzulernen, die er nur aus Erzählungen und von Bildern kannte und es brach ihm das Herz, dass auch er für sie nichts weiter als ein Name und ein Gesicht auf einem Gemälde oder einer Münze war. Aber vor allem verzehrte er sich danach sie endlich wieder in die Arme schließen zu können. Ihre Worte gaben ihm die nötige Kraft diesen Krieg durchzustehen. Doch nur zu deutlich spürte er das Gewicht der Last, die auf ihren beiden Schultern lagen und wenn er sie nicht bald wieder mit ihr teilen würde, drohte er darunter zu zerbrechen. Wenn er so schon am Rande ihres Reiches empfand, wie sollte sie sich dann nur in dessen Herzen fühlen? In seinem ganzen Leben hatte sich Gaius noch nie so weit von seiner Familie entfernt gefühlt.
Dabei war seine Rückkehr nun zum ersten Mal greifbar nah. Die Chance musste er nur ergreifen und er hatte mehr denn je Angst zu versagen. Zu viele Menschen verließen sich auf ihn und er wollte niemanden von ihnen enttäuschen – am wenigsten sich selbst.
In seinem Zelt war Hesiod bereits damit beschäftigt die letzten Vorkehrungen für das Stabstreffen zu treffen. Es war ihm schleierhaft, wie sein Sklave nur an alles denken konnte und ihm immer genau die Karten und Unterlagen herauslegte, die er auch tatsächlich brauchte. Kein einziges Mal in drei Jahren hatte er sich nicht auf Hesiods Vorarbeit verlassen können. Kein einziges Mal in drei Jahren war Gaius unvorbereitet in eine Sitzung gegangen oder hatte während eines Treffens unvorbereitet gewirkt. Wenn sie wieder in Rom waren, würde er Hesiod vielleicht sogar die Freiheit schenken, mit der Aussicht auch weiterhin für ihn zu arbeiten. Denn auf ihn verzichten konnte und wollte Gaius nicht mehr. Aber bevor er eine solche Entscheidung traf, musste er mit seiner Großmutter und seiner Frau darüber sprechen.Nach wenigen Minuten waren seine Offiziere vollständig versammelt und der Kriegsrat konnte beginnen. Mit ernster Miene lauschte Gaius den Berichten seiner Legaten über den Zustand ihrer Legionen. Nach Plautius trat Gnaeus Domitius Corbulo vor, welcher den Posten von Onkel Claudius übernommen hatte. Vor etwa anderthalb Jahren war Onkel Claudius an Gaius herangetreten und hatte ihn darum gebeten ihn zurück nach Rom zu schicken. Das britische Wetter belastete die Gesundheit seines Onkels und Gaius veranlasste die nötigen Schritte. In seinem Brief, den Aurelia vor dem Senat vorlesen sollte, hatte er keinen Namen eingetragen. Obwohl Corbulo ihm nicht als Kandidat in den Sinn gekommen war, hatte er sich innerhalb kürzester Zeit als sehr fähiger Stratege und Legat entpuppt. Sobald Onkel Claudius in Rom eingetroffen war, hatte er seine Stelle an der mittlerweile fertiggestellten Universität angenommen und auf dieser Position schien er vollkommen aufzublühen. Letztendlich waren sie alle zufrieden. Aurelia hatte einen politischen Gegner besänftigt, Onkel Claudius verschaffte sich durch sein enormes Wissen Respekt und Gaius musste seinen Feldzug nicht mit einem Legaten führen, der gar nicht hier sein wollte.
Nachdem der letzte Bericht beendet worden war, nickte Gaius zufrieden. Seine Armee befand sich in einem guten Zustand und war bereit für die kommende Schlacht. Es fehlte nur noch eine Taktik. Mit nachdenklicher Miene widmeten sie sich der Karte der Gegend und Gaius korrigierte schnell die Position ihrer Gegner. Mit zusammengekniffenen Lippen studierte er die verschiedenen Figuren und analysierte das Gelände. Ab und zu griff er sich eine der römischen Figuren, hielt sie für einige Herzschläge unschlüssig in den Händen, bevor er sie an eine andere Stelle auf der Karte setzte. Während seine Legaten ihre Ideen leise miteinander diskutierten, lauschte er stumm und wog ihre eingeworfenen Vorschläge ab. Manchmal stellte er ihre Ideen auf der Karte nach und versuchte vorauszuahnen, wie die Briten auf diese Strategien reagieren würden. Keine der Ideen, die seine Legaten vorschlugen oder er selbst im Geiste herumwälzte, konnte ihn vollkommen überzeugen.
Nach einer Weile richtete er sich auf und blickte über Vespasians Schulter. Hesiod nickte ihm unauffällig zu, bevor er wieder aus dem Besprechungszimmer verschwand. Dies war ihr Zeichen dafür, dass die Sonne gerade unterging.
„Lasst uns aufhören zu diskutieren und die anbrechende Nacht dafür nutzen Klarheit für den morgigen Tag zu gewinnen und neue Kraft zu schöpfen", meinte Gaius und verzog seine Lippen zu einem feinen Lächeln. „Findet euch vor Anbruch der Morgendämmerung hier ein, um eure konkreten Befehle zu erhalten"
Ein Offizier nach dem anderen verließ das Zelt, aber selbst folgte Gaius seinem eigenen Rat nicht. Wie sollte er jetzt auch Ruhe finden, wenn es noch so viele Entscheidungen zu treffen gab? Seine Soldaten zählten auf ihn. Er musste so viele römische Leben retten wie möglich. Tief in die Welt seiner Gedanken versunken nahm er nicht wahr, wie der Mond immer höher stieg.
Wie ein Besessener starrte Gaius auf die Karte, die noch immer auf seinem Schreibpult ausgebreitet war und versuchte endlich eine Lösung zu finden. Immer wieder schob er die einzelnen Figuren über das Gelände und spielte krampfhaft immer wieder die gleichen und dennoch vollkommen unterschiedlichen Szenarien in seinem Kopf durch. Ab und zu hielt er für einen Augenblick in seiner Arbeit inne, ergriff seinen Weinkelch und nippte an seinem Getränk. Am liebsten würde er wie sein Vorfahr einfach einen zweiten Wall bauen lassen und warten, bis die Feinde sich abreagiert hatten. Aber so einfach war es nicht. Er hatte es nicht mit einem Zweifrontenkrieg zu tun. Noch nicht.
Frustriert fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und wünschte sich ihren Rat mehr denn je. Gemeinsam würden sie eine Lösung finden. Mit einem Seufzen schnappte er sich die Figur, die Vespasian darstellen sollte und musterte sie eingehend, als ob die kleine Figur ihm verraten würde, was er tun sollte. Gedankenverloren spielte er mit der Figur, als sich plötzlich eine Hand sanft auf seine Schulter legte. In seine Nase stieg zugleich der vertraute Geruch von Lavendel und Meersalz in die Nase und sein ganzer Körper entspannte sich. Sein Kopf sank unmerklich nach hinten und lehnte an ihrem weichen Körper. Ihre andere Hand strich ihm durch Haar, bevor sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn hauchte. Automatisch schloss er die Augen und genoss ihre Nähe, nach der er sich all die Jahre so schmerzlich verzehrt hatte.
„Warum bist du noch nicht im Bett?", raunte sie besorgt in sein Ohr und ihre Sorge bohrte sich wie ein Dolch mitten in sein Herz. Blinzelnd schlug er die Augen auf und sog ihren Anblick in sich auf. Ihre makellose Schönheit ließ ihn vergessen, dass sie gar nicht hier bei ihm sein konnte. Instinktiv legte er seine Arme um ihre Taille und zog sie an sich. Tief inhalierte er ihren köstlichen Duft.
„Wie soll ich schlafen, wenn mein Verstand nach Antworten sucht?", erwiderte er und ihre seidigen Haare streiften sein Gesicht. Unmerklich lockerte er seinen Griff, damit sie sich besser bewegen konnte. Geschick entwand sie ihm die Figur und musterte mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen den Schlachtplan. Mit einer solchen Endgültigkeit stellte sie die Figur auf einen der Hügel ab, dass Gaius überrascht zusammenzuckte. Mit weit aufgerissenen Augen überblickte er den Plan des Geländes und begriff allmählich, was sie ihm zeigen wollte.
„Manchmal sind die Antworten, die wir so verzweifelt suchen, direkt vor unserer Nase", wisperte sie und ihre Stimme war nicht mehr als ein weit entferntes Echo. Suchend hob Gaius den Kopf, aber sie war fort.Mit einem Schrei auf den Lippen fuhr er aus dem Schlaf auf und für einen Wimpernschlag wusste er nicht, wo er war. Aber er war immer noch in Britannien, während sie in Rom sein Reich regierte. Vor ihm lag noch immer die Karte, die er stundenlang studiert hatte. Er war schon wieder über seinen Plänen eingeschlafen.
Erschöpft griff Gaius nach seinem Weinkelch und aus dem Augenwinkel registrierte er die kleine Statue, die auf einer der Anhöhen im Nordwesten des Geländes stand. Mit einem Satz war er auf den Beinen und überprüfte die Stellungen seiner Legionen und die Position seiner Gegner. Da war sie, die Lösung, nach der er so viele Stunden gesucht hatte. Aurelias Stimme hallte in seinen Gedanken nach. Die Strategie hatte sich bereits vor Stunden direkt hier vor seiner Nase befunden und nur darauf gewartet, dass er sie endlich fand.
Die morgige Schlacht würde die Wende bringen. Entweder würde er auf einen Schlag alles gewinnen oder verlieren, was sie sich in den letzten Jahren aufgebaut hatten.
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Aurelia
Historical FictionIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...