Zeit verliert irgendwann jegliche Bedeutung. Tage und Nächte verschwimmen, bis man den Überblick verliert. Wann Persia den Überblick verloren hatte, wusste sie nicht. Ihr Geist war aus dem Gleichgewicht geraten. Im Kopf versuchte sie krampfhaft Listen zu erstellen oder sich zu erinnern, wie viel Zeit schon vergangen war, seit sich die Tür hinter der totgeweihten Sklavin geschlossen hatte. Jedes Mal, wenn der Riegel vorgeschoben wurde, hoffte sie darauf, sie würden sie endlich hier rausholen. Aber niemand kam, um sie zu retten. Niemand holte sie zum Verhör. Ab und zu kam eine Wache vorbei und stellte ihr etwas zu essen und zu trinken hin. Doch wozu erhielten sie sie am Leben? Ihr blieb nichts anderes übrig als allein mit ihren Gedanken im matten Licht ihrer Zelle zu hocken und auf ihr Schicksal zu warten. Jeder andere Mensch würde wohl in ihrer Situation die Götter um Hilfe anflehen. Aber sie hatte schon vor vielen Jahren ihren Glauben verloren. Denn entweder wollten die Götter ihr nicht helfen oder sie konnten es nicht. So oder so war sie auf sich allein gestellt.
Wenn sie die Augen schloss, kamen längst verdrängte Erinnerungen aufgewühlt durch die Fragen der hingerichteten Sklavin an die Oberfläche und wenn sie mit tränennassem Gesicht aus dem Schlaf hochfuhr, fühlte sie nichts als Leere. Wie gern wäre sie wieder Mina, das Mädchen aus einer kleinen parthischen Stadt, deren Welt nur aus ihrem winzigen Flecken des Partherreichs bestand. Doch sobald sie die Augen aufschlug, wusste sie, dass sie nie wieder dieses Mädchen sein konnte.
Rom hatte ihr so viel genommen: ihren Namen, ihre Familie, ihre Heimat, ihren Glauben, ihre Freiheit und ihre Tugend. Niemals hatte sie Rom ihren Verstand opfern wollen, aber er schien ihr in diesem Chaos immer mehr zu entgleiten. Mit jedem Atemzug fühlte sie, wie sie ein weiteres Stück von sich selbst verlor.Als mit einem Krachen die Kerkertür aufgerissen wurde, hob sie nicht den Blick. Wenn die Wachen, die ihr Nahrung und Wasser brachten, glaubten, sie würde schlafen, verhöhnten sie Persia nicht. Und wozu sollte sie hoffnungsvoll aufblicken, wenn man ihr eh nur eine Schüssel vors Gitter stellen würde.
Doch statt des vertrauten Klapperns von Holz auf Stein drang das Krächzen des schweren Riegels an ihr Ohr und verwirrt sah sie auf. Über ihr stand ein sehr gepflegter Mann Anfang dreißig und musterte sie ausdruckslos. Hinter ihm standen zwei grobschlächtige Kerle.
„Übergebt sie Agathe, aber bleibt in der Nähe", wies er die beiden Männer an, die sogleich Persias Arme packten und sie auf die wackligen Beine zog. Wer war Agathe? Würden sie Persia nun zur Folter schaffen? Ihr Herz begann zu rasen.
„Denk nicht einmal daran zu fliehen", meinte er zu ihr. „Hier kommst du niemals lebend raus"
Ihre Angst lähmte ihre Gedanken und so stellte sie dem gepflegten Mann weder Fragen noch wehrte sich gegen die groben Hände, die sie unerbittlich aus ihrer Zelle und dem Kerker zerrten. Blinzelnd versuchte sie ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen und strauchelte leicht.
Die Männer brachten sie in einen kleinen, fensterlosen Raum mit einem Zuber und einer alten Sklavin, Agathe. Kaum hatten ihre Wachen den Raum verlassen und abgeschlossen, wurde sie von der alten Sklavin entkleidet und in den Zuber gesteckt. Dort schrubbte sie ihr wenig fürsorglich den Gestank und Dreck des Kerkers von der Haut und aus den Haaren. Eh Persia es sich recht versah, stand sie sauber und in frischen Kleidern da und traute sich nicht der alten Frau ihre Fragen zu stellen.
Die Alte klopfte drei Mal gegen die Tür, der Schlüssel bewegte sich im Schloss und mit einem Klicken wurde die Tür schließlich geöffnet. Die Wachen nickten Agathe knapp zu, dann packten sie Persia erneut grob und führten sie in einen anderen, sehr eleganten Raum.
Persia konnte gerade noch sehen, dass an einem der hohen Fenster eine Gestalt mit dem Rücken zu ihr hinaus auf einen herrlichen Garten blickte. Dann wurde Persia von ihren Wachen auf die Knie gezwungen und instinktiv senkte sie demütig den Blick. Wer auch immer diese Person da am Fenster war, sie würde über Persias Schicksal entscheiden. Persias galoppierender Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Am Rande nahm sie wahr, dass ihre Wärter den Raum mit schweren Schritten verließen.
Die Zeit schien still zu stehen, während sie die kunstvollen Marmorfließen betrachtete. Quälend langsam kroch der Schatten der Person in ihre Blickfeld. Nach einer Ewigkeit nahm sie all ihren Mut zusammen und ihr Blick huschte nach oben. Die Gestalt kehrte ihr noch immer nachdenklich den Rücken zu, als hätte sie Persias Ankunft gar nicht wahrgenommen. Mit klopfendem Herzen wagte sie die Gestalt zu mustern. Vom Licht der hereinfallenden Sonne geblendet konnte Persia nur erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Ihre langen Haare fielen ihr offen bis auf die schlanke Hüfte und verbargen ihr Gesicht.
Plötzlich stieg Wut in Persia auf. Warum musste sie sich vor einer anderen Frau in die Knie zwängen lassen, wenn diese sie dann komplett ignorierte? Wie sie es hasste, dass diese Menschen sich für etwas besseres hielten, nur weil sie Römer waren. Warum war sie hier?
„Was wollt Ihr von mir?", brachte sie mühsam heraus und die andere Frau drehte sich langsam zu ihr um. Ein Großteil ihres Gesichts blieb im Schatten verborgen, nur ein amüsiertes Lächeln meinte Persia erahnen zu können.
„Ich bin hier, um dir einen Handel vorzuschlagen", erwiderte die Frau gelassen. Ihre Stimme kam Persia dunkel vertraut vor. Eine feine Gänsehaut überzog ihren Körper.
„Wer seid Ihr?", wollte sie wissen und die Frau trat mit einem Schritt aus dem Schatten ins gleißende Licht der Sonne. Persia schnappte verblüfft nach Luft. Ihre Wut löste sich auf und zurück blieb nur Chaos. Ihr Körper wurde kalt und taub. Ihr Magen begann zu rebellieren. Ihr Verstand versuchte krampfhaft zu verstehen, aber es machte einfach keinen Sinn. Sie müsste tot sein. Sie sollte tot sein. Warum lebte sie noch und erwiderte so unerträglich gelassen ihren Blick? Natürlich hatte sie die Frau sofort erkannt. Denn auch wenn Persia im Fackelschein nur einen kurzen Blick auf ihr wunderschönes Gesicht geworfen hatte, hatte es sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Solche Schönheit konnte man niemals vergessen. Das Haar glänzte im Sonnenlicht wie gesponnenes Gold. Die intelligenten, meerblauen Augen blickten warm, ruhig, freundlich und klug, als würden sie alle Geheimnisse dieser Welt längst kennen. Vor Persia stand die Sklavin aus dem Kerker. Ihre perfekten Lippen verzogen sich zu einem warmen Lächeln und die Kälte wich langsam aus Persias Körper. Vielleicht würde sie die Gutmütigkeit der Römerin irgendwie für sich zu nutze machen können und hatte sie nicht eben noch gesagt, dass sie ihr einen Handel vorschlagen möchte? Vielleicht war sie ja ebenso schön wie dumm.
„Ich bin Aurelia Vespasia", stellte sich die Schöne in vertraulichem Ton vor, während in ihrer Stimme dieser seltsame Akzent mitschwang. „Seit drei Tagen bin ich die Frau des Princeps, den du zu ermorden versucht hast"
Minas Hoffnungen zersplitterten wie ein Glaskelch auf Marmorfließen. Sie war hoffnungslos verloren. Nie und nimmer würde sie dieser Frau eine Falle stellen können. Denn sie hegte keine Zweifel, dass diese Frau der Grund für Persias Scheitern beim Princeps gewesen war. Keine Frau konnte einen Mann wie ihn nur durch Schönheit so fest an sich binden. Nicht einmal wenn man aussah wie eine sterbliche Göttin. Tief in ihrem Inneren wusste Persia, dass sie bereits in Aurelias Falle getappt war. Was auch immer diese mysteriöse Fremde ihr vorschlagen würde, Persia würde annehmen. Was es sie auch kosten möge. Ihr Verstand brach zusammen, das Zimmer begann sich zu drehen, aus weitere Ferne hörte sie Aurelia etwas rufen, dann versank sie in tiefer, schwarzer Stille.
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Aurelia
Fiksi SejarahIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...