Während Gaius in der Dunkelheit des Geheimgangs auf Clemens wartete, überkam ihn eine tiefe Ruhe. Nach einer Weile hörte er Schritte von den Wänden widerhallen, dann tauchte vor ihm der näherkommende Schein der Fackel des Prätorianers auf.
Hastig erkundigte sich der Ankömmling, ob er denn zu spät sei und Gaius versicherte, dass er einfach nur bereits sehr zeitig hier gewesen war. Höflich wollte Gaius den Grund des heimlichen Treffens erfahren. Statt einer Antwort zog der junge Prätorianer einen Papyrus hervor. Wortlos musterte Caligula das Blatt, erkannte seine Schrift und das Gedicht. Abwartend sah er Clemens an.
„Ich weiß, dass dies nicht nur ein paar harmlos Verse sind, Herr", sagte Clemens leise, aber bestimmt. „Ihr habt schon früher Botschaften in solchen Zeilen versteckt. Keine Sorge, ich habe es niemandem verraten, denn die anderen würden mich dafür nur auslachen und als Träumer bezeichnen. Ihr versucht mehr über Eure Mutter und Euren Bruder herauszufinden"
Forschend musterte Gaius den jungen Prätorianer, den er bis eben deutlich unterschätzt hatte. Auf seine Frage, wie Clemens diese Dinge herausgefunden hatte, wurde der Prätorianer trotz des spärlichen Lichts der Fackel rot und murmelte: „Ich habe durchaus eine Rhetorikschule besucht und traf auf einen Lehrer, der uns beibrachte mehr zu erkennen als andere"
Gaius nickte und runzelte die Stirn. Wollte Clemens ihn mit diesen Informationen erpressen oder warum hatte er ihn hierher bestellt? Zügig griff Clemens erneut unter seinen Brustpanzer und zog weitere Papyri heraus, die er Gaius wortlos überreichte. Immer noch misstrauisch überflog Gaius die erste Seiten und blickte überrascht auf.
„Das sind alles Abschriften, welche die gute Sophie für mich getätigt hat. Die Originale liegen wieder sicher in Macros Truhe"
Ungläubig lauschte Gaius Clemens' Bericht über den Diebstahl der Dokumente, die auf Befehl des Princeps niemals Gaius erreichen sollten. Kaum hatte der junge Prätorianer geendet, vertiefte sich Gaius in seine Briefe. Es konnte einfach nicht stimmen. Wie sollte dieses kleine, unschuldige Mädchen an solch sensible Informationen gekommen sein. Wenn seine Mutter und sein Bruder in der Verbannung gestorben wären, dann hätte er das doch irgendwie erfahren. Aber hier hielt ihr die Briefe seiner Großmutter und Schwestern in den Händen, die der Princeps bewusst abfangen ließ, damit Gaius unwissend blieb. Hatte jeder in diesem von den Göttern verlassenem Land außer ihm Bescheid gewusst? Dieses alte Schwein hatte ihn bestimmt so unter seiner Kontrolle behalten wollen. Als ob Gaius den Launen von Tiberius nicht schon längst auf Gedeih und Verderben ausgeliefert war!
„Sie hat es gewusst", murmelte er immer wieder vor sich hin und am liebsten hätte er angefangen zu weinen wie ein kleines Kind, doch vor Clemens durfte er keine Schwäche zeigen. Deshalb blieb seine ausdruckslose Maske an ihrem Platz. Als er dem Blick des Prätorianers begegnete, erblickte er die Frage vor der er sich am meisten fürchtete: Was sollten sie nun mit Aurelia machen?
„Ich werde sie unter keinen Umständen meinem Großonkel überlassen", sagte Gaius tonlos, nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, das der Gang tatsächlich leer war. „Ich werde ihr helfen wie eine echte Römerin aufzutreten und danach habe ich auch schon eine Geschichte und ein Zuhause für sie im Sinn, damit sie aus diesem goldenen Käfig in ein ruhiges, glückliches Leben fliehen kann"
Ein Leben weit weg von ihm, dachte er bitter. Laut fügte er noch hinzu: „Aber als erstes werde ich die Wahrheit über sie herausfinden"
Mit diesen Worten drückte Gaius Clemens die Dokumente in die Hand, nickte und verschwand in die Dunkelheit.Bevor er sich vollkommen müde in sein Bett fallen ließ, registrierte er, dass Aurelia nicht darin lag. Er wollte sich aufsetzen und nach ihr suchen, doch sobald sein Kopf das weiche Kissen berührte, war er eingeschlafen.
Wenig später wurde er von sanften Fingerspitzen auf seiner Wange geweckt. Blinzelnd öffnete er die Augen und erschrocken zog das wunderschöne Mädchen ihre Hand zurück. Blitzschnell griff Gaius danach und setzte sich auf.
„Woher wusstest du es?", murmelte er schläfrig und zog sie näher zu sich heran. Als sie wieder davon begann, dass er ihr die Wahrheit sowieso nicht glauben würde, seufzte er frustriert. Bevor sie reagieren konnte, packte er sie an der Taille, warf sie aufs Bett und drückte sie mit seinem eigenen Gewicht in die Matratze. Ihre vor Überraschung aufgerissenen Augen wurden dunkler, ihr Atem schneller, ihre einladenden Lippen öffneten sich leicht und ohne dass sie es selbst bemerkte, hob sich ihr Körper dem seinen entgegen. Innerlich jubelte er, dass dieses wunderschöne Mädchen genauso heftig auf ihn reagierte wie er auf sie, auch wenn sie beide ihr Verlangen bis eben gut voreinander verbergen konnten. Kurz überlegte er, ob er mehr aus ihr herausbekommen würde, wenn er mit ihr schlafen würde. Doch im nächsten Moment schob er die aufkommenden Bilder angeekelt von sich selbst weg. Tiberius mag ihm vielleicht beigebracht haben Sex als Mittel zum Zweck in Erwägung zu ziehen, doch Gaius wollte diesen Rat seines Onkels niemals befolgen. Niemand verdiente es, dass man so mit ihm spielte - schon gar nicht eine Göttin wie Aurelia.
Ein letztes Mal sog er ihren berauschenden Duft tief in sich ein, dann zwang er sich von ihr herunterzurollen und ein Stückchen von ihr wegzurücken. Um gegen den Drang sie einfach auf sich zu ziehen und sich in ihr zu verlieren zu bekämpfen, schloss er die Augen. Wie lange sie so schweigend um Atem ringend nebeneinander lagen, konnte er nicht sagen. Doch als er die Augen wieder öffnete und zu ihr hinübersah, zuckte er betroffen zusammen. Stumme Tränen rannen über ihre Wangen und tropften lautlos in ihr Haar und auf seine Kissen.
Nach kurzem Zögern zog er sie sanfter an sich heran und summte leise das alte Wiegenlied in ihr Ohr, welches seine Mutter immer heimlich für ihn gesungen hatte, wenn er wieder schreiend aus seinen Alpträumen erwacht war. Ihr seidig weiches Haar kitzelte an seiner Wange. Einige blieben auch in den kleinen Stoppeln hängen und er beschloss sich heute noch rasieren zu lassen.
Langsam entspannte sich Aurelia auf seiner Brust und sobald die Tränen endlich versiegten, hob sie den Kopf, um ihm tief in die Augen zu sehen.
„Ich dürfte gar nicht hier sein", schluchzte sie und behutsam setzte sich Gaius auf, darauf bedacht, dass sie zwar immer noch an seiner Brust ruhte, aber in keiner Weise unangemessen auf seinem Schoß saß. Denn dann konnte er nicht garantieren, wie lange er die Kontrolle über sich behalten würde. Leise flüsterte er, dass ihm dieser Umstand durchaus bewusst war. Glücklicherweise konnte er sich gerade noch daran hindern ihr davon zu erzählen, wie froh er war, dass sie dennoch hier bei ihm war. Ohne ihn war sie besser dran, das war ihm schmerzlich bewusst.
„Nein", wisperte sie und legte ihre Fingerspitzen federleicht auf seine Lippen, um seinen Protest zu ersticken. „Die Wahrheit, Gaius, ist, ich gehöre nicht in diese Zeit, denn gemessen an dir, wurde ich noch gar nicht geboren. Auch meine Eltern, meine Großeltern, nicht einmal meine Urururururururururururgroßeltern leben bereits"
Verwirrt betrachtete er sie. Doch ihre Augen, diese wundervollen Augen, konnten einfach nicht lügen.
„Vom Zeitpunkt meiner Geburt betrachtet", sagte sie, ihre Stimme brach und mit einem Mal strahle sie eine solche Traurigkeit aus, dass Gaius sie unwillkürlich noch ein Stück näher an sich zog. „Bist du bereits seit fast zweitausend Jahren tot"
Mit einem Mal sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Er saß einfach nur da, hielt sie fest und lauschte auf jedes ihrer unglaublichen Worte. Nachdem sie verstummte, dachte er noch eine ganze Weile nach, dann blickte er ihr voller Ernst tief in die Augen und versicherte sanft: „Ich glaube dir"
Mit einem Mal fiel die ganze Anspannung von ihrem Körper ab, sie schlang die Arme um seinen Hals, zog ihn an sich und bedankte sich flüsternd. Zögernd legte er seine Arme um ihre schmale Taille und vergrub das Gesicht in ihren seidigen, golden schimmernden Haaren. Etwas verlegen, aber glücklich lächelnd löste sie sich schließlich von ihm und fragte scherzend, was er nun mit ihr vorhabe.
Seine Fantasie schlug ihm ein paar interessante Möglichkeiten vor, doch er erwiderte ihr Lächeln verschmitzt und sagte: „Wir machen einfach eine echte Römerin aus dir"Aurelia lernte sehr schnell. Anscheinend hatte sie nur jemandem die Wahrheit erzählen müssen und schon blühte sie vollkommen auf. Innerhalb weniger Tage bewegte, aß und trank sie wie eine vollkommene, römische Edelfrau. Nach einem Monat beherrschte sie die Lyra und konnte sogar einige Passagen der Metamorphosen darauf spielen. Manchmal erwischte er sie dabei, wie sie leise in ihrer fremden Sprache singend durch das Zimmer auf eine Weise tanzte, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Aber es gefiel ihm, wie sie sich sinnlich zu der Musik bewegte, die niemand abgesehen von ihr selbst hörte. Auch wenn sie ihn immer noch wie eine Motte das Licht anzog, war zwischen ihnen nichts mehr geschehen. So gern er sie zu der Seinen machen würde, sie danach zu verlieren würde er nicht ertragen können. Und er würde sie verlieren müssen.
Einmal hatte er all seinen Mut zusammen genommen und sie nach seiner Zukunft gefragt. Sofort war sie ganz still geworden und hatte ihn ganz bestürzt gemustert. Dann hatte sie rasch weggesehen und versichert, dass er als einer der berühmtesten Kaiser in die römische Geschichte eingehen werde. Bei diesen Worten hatte er nur verwirrt die Stirn gerunzelt, doch er bedrängte sie nicht mehr zu erzählen. Ihm war klar, dass sie ihm etwas verschwieg. Deshalb fragte er sie nicht einmal, was genau sie mit Kaiser meinte. Denn vermutlich hatte sie eh nur eine Anspielung auf seine Abstammung zu dem berühmten Eroberer Galliens gemacht, die sich ja bei seinem Namen leider nie ganz vermeiden ließ.
Als er nach einem Fest mit der ersten Morgendämmerung sein Zimmer betrat, fand er sie auf seiner Speiseliege zusammengekauert, eine Decke vollkommen schief übergehangen und seinen Catull-Codex aufgeschlagen auf dem Boden liegend. Lächelnd zog er die Decke gerade und seine Träume waren gefüllt mit ihrem sanften, wissenden Lächeln. Dieses Lächeln versprach, dass alles gut werden würde.
Doch ihr fremdländischer Akzent wollte einfach nicht weichen. Nach drei Monaten gab Gaius sich geschlagen. Mittlerweile hatte er sich an ihn gewöhnt. Doch je weiter die Zeit verstrich, desto mehr wurde ihm bewusst, wie viel sie noch lernen musste. Mit jedem Tag, an dem sie sich hier verborgen hielt, wuchs seine Unruhe. Im Verborgenen begann er mit Clemens Pläne zu schmieden, um sie unbemerkt von dieser von den Göttern verfluchten Insel zu bekommen. Wenn Tiberius sie in die Finger kriegen würde, bevor sie bereit war, würde sie schlimmeres erwarten als der Tod.
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Aurelia
Historical FictionIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...