Kapitel 21 ~ Aufbruch ins Ungewisse

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Aurelia merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Benommen setzte sie sich auf und rieb sich schlaftrunken die Augen. Sie war immer noch in der Antike. Die Sonne schien noch nicht ins Zimmer und die ersten Vögel zwitscherten. Neben ihrem Bett saß in Gedanken versunken Vespasius. Mit einem Schlag war sie hellwach.
„Was machst du hier?“, fragte sie hastig und setzte sich gerader hin. „Ist etwa passiert?“
Vespasius musterte sie eingehend, schloss die Augen und seufzte tief.
„Der Princeps ist vergangene Nacht von uns gegangen, Aurelia“, murmelte er ohne sie anzusehen. Natürlich löcherte Aurelia ihn zugleich mit unzähligen Fragen, doch er konnte ihr nur sagen, dass sie unverzüglich nach Rom aufbrechen würden. Ihr Adoptivvater reichte ihr einen Teller mit Käse und Brot. Ein Becher mit Wasser stand neben ihrem Bett auf dem kleinen Tischchen. Appetitlos begann Aurelia zu essen, während Vespasius sie aufmerksam beobachtete.
Gerade als er den Mund zum Sprechen öffnete, klopfte es an der Tür und kurz huschte Frustration über sein dickes Gesicht. So schnell sein Gewicht es ihm erlaubte, watschelte er zur Tür und öffnete sie. Nara und Belana betraten geknickt den Raum. Vespasius instruierte sie freundlich wie sie Aurelias Sachen zu verstauen hätten. Dabei betonte er besonders, alle Kleidungs- und Schmuckstücke aus der kaiserlichen Familie, die keine Geschenke waren, an die jeweiligen Besitzer zurückzugeben. Nachdem die Sklavinnen zögerlich nickten, verließ Vespasius weniger angespannt den Raum. Die wenigen Stücke waren schnell auf zwei Haufen aufgeteilt und ihre eigenen Kleider, deren große Zahl sie überraschte, in einer Kiste verstaut.
„Was möchtet Ihr heute tragen, Herrin?“, fragte Nara sanft und nahm ihr den leeren Teller ab. Aurelia entschied sich für eine türkisblaue Tunika. Sobald sie angezogen war, setzte sie sich vor den kleinen Spiegel. Behutsam entwirrte Belana ihre langen Haare mit einem Kamm und wollte sie schon wieder zu einer traditionellen Frisur aufstecken, als Aurelia sie zurückhielt. Glücklich fuhr sie mit den Fingern durchs Haar. Ab heute würde sie es wieder offen tragen, wenn die Temperaturen und der Anlass es erlaubten.
Mit Tränen in den Augen verabschiedeten sich die beiden Sklavinnen von ihr. Stutzig fragte sie, ob sie sie denn nicht begleiten würden. Betreten sahen sie auf den Boden.
„Wir gehören der kaiserlichen Familie, Herrin“, erklärte Nara und Belana nickte traurig. „Wir werden mit Euch nach Rom kommen, wenn man es uns befiehlt. Doch werden wir Euch dort nicht mehr dienen können“
„Es war eine Ehre Euch dienen zu dürfen, Herrin“, versicherte Belana und Aurelia lief eine Träne über die Wange. Eilig stand sie auf und nahm die beiden Frauen in die Arme, die sie trotz des Standesunterschieds lieb gewonnen hatte. Als sie sich rasch wieder von ihnen löste, ergriff sie jede bei der Hand, sah ihnen tief in die Augen und sagte: „Mögen die Götter ihre schützenden Hände über euch halten, meine Freundinnen“
Die Sklavinnen weinten stumm, verbeugten sich und wünschten Aurelia den gleichen Segen. Dann wischten sie sich vorsichtig die Tränen aus den Augen und verließen das Zimmer, jede einige Kleider unter dem Arm, die sie vor der Abreise zurückbringen mussten.
Betreten setzte sich Aurelia auf den kleinen Stuhl. Die Stille ihres Zimmers machte sie wahnsinnig. Deshalb warf sie sich ihren Mantel über und begab sie sich nach draußen für einen letzten Spaziergang ans Meer.
So emsig das Treiben der Sklaven im Haus auch war, so friedlich und verlassen lag der Strand vor ihr. Der Wind riss an ihren Kleidern und zerzauste ihre gerade erst gekämmten Haare. Doch es störte sie nicht. Wieder einmal fragte sie sich, was das Schicksal wohl als Nächstes für sie bereithielt.
Mit einem Seufzen wandte sie sich viel zu schnell von der Küste ab und schritt zurück zur Villa. Dort hatten die Sklaven bereits sämtliches Gepäck auf Kutschen verteilt und halfen den Adligen beim Einsteigen. Aurelia konnte unter ihnen Vespasius entdecken, der sich panisch zu allen Seiten umsah. Rasch lief sie auf ihn zu.
„Da bist du ja, Kind! Wir haben dich schon überall gesucht“, stieß er erleichtert aus und führte sie zu seiner Kutsche ihrer Zukunft entgegen.

Der lange Tross kam nur langsam voran. Sie waren bereits seit fünf Tagen unterwegs. Kurz nach Mittag machten sie ihre erste und einzige Pause des Tages. Rom war nur noch wenige Stunden entfernt, doch die Pferde brauchten eine Rast. Im Schatten der Bäume wurden in Windeseile Zelte von Sklaven errichtet, in denen sich die Reichen und Schönen kräftigen konnten.
Plötzlich tauchte Clemens neben ihr auf und flüsterte ihr zu, dass Gaius sie sehen wolle. Aurelia nickte hastig, ignorierte den besorgten Blick ihres Adoptivvaters, stellte den Becher ab und folgte Clemens. Vor dem kleinsten und unscheinbarsten Zelt blieb er stehen und bedeutete ihr stumm einzutreten. Selbstbewusst drückte Aurelia die Schultern durch, schlug die Plane beiseite und betrat das Zelt. Gaius stand mit dem Rücken zu ihr und spielte gedankenverloren mit einem Ring an seinem linken Ringfinger, den sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Leise trat sie an ihn heran und flüsterte seinen Namen. Langsam wie ein Schlafwandler drehte er sich zu ihr um und musterte sie eindringlich. Sie verzog den Mund zu einem zaghaften Lächeln.
„Du wolltest mich sehen?“, fragte sie vorsichtig und er fuhr sich fahrig mit der Hand durchs Haar.
„Jetzt, da mein Onkel tot ist, bist du endlich in Sicherheit“, meinte er ernst, doch sie kannte ihn mittlerweile gut genug, um seine Traurigkeit zu erkennen. Zaghaft trat sie zu ihm, zog sich seinen Ring vom Finger, nahm seine Hand, legte den Ring hinein und schloss seine Finger um ihn. Verwundert blinzelte er auf sie herab.
„Julia hat mir erzählt, was dir dieser Ring bedeutet“, erklärte sie sanft und hielt seine Hand fest darum verschlossen. Gaius beugte sich plötzlich zu ihr hinunter und kurz glaubte sie er würde sie endlich küssen, doch er legte nur seine Stirn an die ihre. Hastig senkte sie den Blick, damit er ihre Enttäuschung nicht sehen würde. Leise seufzend murmelte er, Tiberius hätte Recht. Verwirrt begegnete sie seinem gequälten Blick.
„Ich würde dich wirklich nur zerstören, Aurelia und ich muss dich vor dieser alles verschlingenden Dunkelheit in mir beschützen. Ich will nicht, dass du mich so siehst oder du wegen mir leidest“, hauchte er bedauernd und stellte sich gerader hin. Bewegt legte Aurelia ihre andere Hand auf seine Wange, schon wieder glitzerten Tränen in ihren Augen.
„Es gibt keine Seite an dir, vor der du mich beschützen musst“, flüsterte sie sanft. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte endlich ihre Lippen auf die seinen.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt