In dem Moment, als er ihre Hand nahm und sich ganz von dem verängstigten Jungen abwandte, überkam Aurelia ein ungutes Gefühl. So konnten sie Gemellus nicht zurücklassen. Entschlossen blieb sie stehen und hielt Gaius sanft zurück. Sie warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, mit dem sie sich vergewisserte, dass er sie gewähren ließ. Federleicht fuhr sie ihm mit den Fingerspitzen beruhigend über den Arm, dann drehte sie sich wieder zu Gemellus um und trat mit ernster Miene auf ihn zu. Unsicher blickte Gemellus zu ihr auf. Langsam und behutsam wie mit einem verletzten Tier sank sie auf seine Augenhöhe herab.
„Macro hat dich benutzt, Gemellus", erklärte sie mit ruhiger Stimme dem noch immer zitternden Jungen. „Sein Plan war es immer der Erste im Staat zu werden. Von Anfang an hatte er vor erst uns und danach dich zu beseitigen, sobald du seinem Wunsch Agrippina zu heiraten aus Dankbarkeit nachgegeben hättest. Du bist noch sehr jung, Gemellus. Lass nicht zu, dass er dich mit sich in den Abgrund stürzt!"
Berechnend bohrten sich Gemellus verquollene Augen in die ihren. Als er nach einer Weile nachdenklich den Blick zu Gaius wandern ließ, wirkte er vollkommen verändert. Gemellus erschien ihr ruhiger, weniger innerlich zerrissen und fast so, als könnte er zum ersten Mal die Last sehen, die Gaius' Schultern seit über neun Monaten trugen. Aber das Wichtigste war, dass er ihnen endlich glaubte.
„Es gibt vieles, worüber ich noch nachdenken muss", sagte Gemellus mit heiserer Stimme. „Aber von nun an werde ich mich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren und mich nicht länger in diesem Strudel aus Dunkelheit verkriechen"
Verständnisvoll nickte sie ihm zu, erhob sich elegant und fixierte einen nach dem anderen die anwesenden Prätorianer.
„Wenn auch nur ein Wort von dem, was sich heute hier zugetragen hat, diesen Raum verlässt", erklärte sie gelassen und blickte den Männern tief in die Augen. „Werde ich dafür sorgen, dass es das letzte Wort war, dass jemals über eure Lippen gekommen ist. Habt ihr mich verstanden?"
Die Männer salutierten hastig vor ihr und bekundeten somit stumm ihr Verständnis. Zum Dank nickte sie ihnen ernst zu, dann streckte sie die Hand nach ihrem Gaius aus. Wortlos schoben sich seine Finger zwischen ihre und gemeinsam schritten sie aus der Zelle. Kaum erreichten sie das helle Atrium ihres Palastes, fiel endlich alle Angst von ihr ab und machte einem neuen Gefühl Platz: Erschöpfung. Mühsam versuchte sie ihre aufwallende Müdigkeit unter Kontrolle zu bringen und konzentrierte sich ganz darauf einen Schritt vor den anderen zu setzen. Schweigend durchquerten sie die restlichen Gänge und gelangten endlich an den Ort, an dem sie sie selbst sein konnten. Mit dem vertrauten Klicken rastete die schwere Holztür hinter ihnen ins Schloss. Gaius zog sie sofort in seine Arme und vergrub das Gesicht in ihren Haaren, während Aurelia müde den Kopf gegen seine Brust lehnte, die Augen schloss und seinen vertrauten Geruch tief einatmete.
„Es tut mir leid", flüsterte er in ihr Ohr. Träge schlug Aurelia die Augen auf, legte den Kopf in den Nacken und erwiderte seinen Blick. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet.
„Kannst du mir bitte etwas versprechen?", fragte sie leise und er hob fragend die Augenbraue hoch, nickte jedoch sofort.
„Wenn du das nächste Mal vor einer so wichtigen Entscheidung stehst, rede bitte mit mir darüber und entscheide nicht einfach irgendetwas", bat sie ihn ernst. Zaghaft strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und versicherte ihr in Zukunft ihren Rat einzuholen. Erleichtert kuschelte sie sich wieder an ihn. Nach einer Weile raunte er ihr ein kleines Danke zu. Fragend blickte sie ihn an.
„Dafür, dass du mich vom Abgrund gezogen hast", erklärte er mit einem feinen Lächeln und lehnte seine Stirn sanft gegen ihre.
„Gaius", sagte sie zärtlich. „Ich liebe dich von ganzem Herzen und wenn es sein muss, würde ich dich selbst aus dem Tartarus schleifen"
Sein leises Lachen vibrierte in ihrem Körper nach.
„Ich hoffe, dass es dazu niemals kommen wird", erwiderte er und das feine Lächeln verzog sich zu seinem typischen, schiefen Grinsen. Doch die dunklen Schatten unter seinen Augen konnte er damit nicht verbergen. Besorgt musterte sie sein vertrautes Gesicht und nahm es behutsam in die Hände.
„Du arbeitest zu viel", stellte sie fest und runzelte beunruhigt die Stirn. Gaius verdrehte die Augen und erklärte lässig, dass Politik nicht an die Tür klopfe und frage, ob ihr Erscheinen nun gelegen sei oder ob sie zu einem günstigeren Zeitpunkt wiederkommen sollte. Obwohl sie ernst bleiben wollte, konnte sie ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Lachend hob er sie hoch und wirbelte sie trotz ihres halbherzigen Protests herum.
„Heute habe ich frei", erklärte er feierlich und setzte sie vorsichtig wieder auf ihre Füße.
„Dann solltest du deine freie Zeit nutzen und dich ausruhen", entgegnete sie, ergriff noch etwas schwindlig seine Hand und zog ihn mit sich ins Schlafzimmer. Ohne Widerrede ließ er sich auf das Bett fallen und blinzelte sie träge an.
„Erzählst du mir eine Geschichte aus der Zukunft?", erkundigte er sich wie ein kleiner Junge und Aurelia lachte zum ersten Mal an diesem Tag. Zugleich setze sie sich neben ihn und überlegte, während er seinen Kopf auf ihrem Schoß bettete. Gedankenverloren fuhr sie ihm mit den Fingern durch das volle, blonde Haar.
„Worüber möchtest du denn etwas hören?", fragte sie zurück und sofort antwortete er: „Britannia - Was weißt du über diese mysteriöse Insel?"
Aurelia lachte leise, wurde dann jedoch schlagartig ernst und wünschte sich sie hätte im Englischunterricht besser aufgepasst. Aber schon damals hatte sie sich mehr für die Geschichte des Landes interessiert als für irgendwelche Einwohnerzahlen und Nationalgerichte.
„Ich war noch nie dort, aber die Landschaft ist wunderschön", fing sie an und Gaius saugte jedes ihrer Worte begierig ein. Plötzlich kam ihr eine Idee.
„In ungefähr 1500 Jahren wird es auf der Insel zwei Königreiche geben, die jeweils von einer Königin regiert werden. Im Norden herrscht Mary, im Süden Elizabeth"
„Was für seltsame Namen", warf Gaius ein und Aurelia verdrehte amüsiert die Augen. Gespielt genervt fragte sie ihn, ob er die Geschichte überhaupt hören wollte. Betreten versprach Gaius sie nicht weiter zu unterbrechen und schloss die Augen.
„Sie sind verwandt, Cousinen sogar. Doch man verlangt von ihnen, dass sie sich gegenseitig um die Herrschaft über ganz Britannien bekämpfen. Eines Tages muss Mary aus ihrem Land fliehen und sucht bei Elizabeth Schutz. Diese kann in Mary jedoch nur eines sehen: eine Bedrohung für ihre eigene Herrschaft. So sperrt sie diese ein. 18 Jahren später wird Mary wegen Hochverrats hingerichtet, während Elizabeth in die Geschichte eingeht als eine der größten Königinnen, die es je gegeben haben wird. Unter ihrer Herrschaft erblühen Kunst, Literatur und Theater. Ein Makel haftet ihrem Bild jedoch auf ewig an: Marys Hinrichtung"
Nachdenklich verstummte sie und blickte hinaus auf die wunderschöne Gartenanlage ihres Palastes.
„Glaubst du, dass Geschichte sich immer wieder wiederholt?", fragte sie, doch erhielt keine Antwort. Überrascht wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Gaius zu, dessen Atmung gleichmäßig geworden war. Behutsam hob sie seinen Kopf an und legte sich neben ihn. Sofort murrte er im Schlaf, zog sie an sich und vergrub das Gesicht an ihrer Halsbeuge. Obwohl seine Haare sie kitzelten, hielt Aurelia still und hoffte, er würde weiterschlafen. Kurz darauf wurde sein Atem wieder gleichmäßiger. Vorsichtig wischte sie sich seine Haare aus dem Gesicht und hauchte ihm einen leichten Kuss auf den Scheitel. Mit ihm fühlte sich alles so richtig an.
„Ich verspreche dir, dass sich deine Geschichte nicht wiederholt", wisperte sie, dann schlang sie lächelnd ihre Arme um seinen Körper, schloss die Augen und lauschte seinem ruhigen Atem bis auch sie in einen tiefen, erholsamen Schlaf fiel.
DU LIEST GERADE
Aurelia
Ficción históricaIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...