Gesoriacum, Gallia Belgica, 20. April 41 n. Chr.
Mit einem Satz sprang Gaius von seinem Pferd und ignorierte die nervösen Blicke, die ihm die Tribunen zuwarfen. Sie sahen nur wenige Jahre jünger aus als er selbst. Aber im Gegensatz zu ihnen war er zwischen Soldaten, Tribunen und Legaten aufgewachsen, während sie auf Landgütern gespielt oder ihre Zeit in den Gärten ihrer reichen Freunde in Rom verbracht hatten. Im Gegensatz zu ihnen, die noch so unerfahren waren, konnte er sich nicht nur im Schlaf in einem römischen Militärlager zurechtfinden, sondern kannte auch alle Strategien und Winkelzüge, mit denen Siege errungen werden konnten. Jetzt befanden sie sich noch in einem dauerhaften Lager, aber bald würden sie diese Bequemlichkeiten aufgeben müssen.
Ernst reichte er die Zügel seines Pferdes dem Strator und stapfte in Richtung Praetorium davon, dort würde er in den nächsten Wochen bis zur Überfahrt wohnen. Schon bald würde er die Villa gegen ein Zelt tauschen und ehrlich gesagt freute er sich schon darauf. Suetonius und drei andere Prätorianer folgten ihm in angemessenem Abstand. Im ersten Augenblick wunderte er sich über den Respekt, den die Soldaten ihm entgegenbrachten, hatte er ihn sich doch bisher noch nicht verdienen können. Denn er war nicht mehr der kleine Junge, der in einer extra für ihn angefertigten Rüstung durch das Lager lief, als wäre es sein Spielplatz. Er war der Feldherr dieser Armee und er würde jedem einzelnen seiner Legionäre beweisen, dass er nicht nur der Sohn des großen Germanicus war. Bald würden sie ihn für seine eigenen Leistungen respektieren und nicht mehr nur für die seines Vaters. Ohne zu zögern öffnete Gaius die Tür des Praetoriums und verschwand im Inneren der Villa. Als er eintrat, erhob sich Hesiod und gab den Sklaven ein Zeichen seine Verpflegung vorzubereiten.
Natürlich würde Gaius am liebsten sofort seinen Stab zusammenrufen, aber er stank wie ein Barbar und sein Magen knurrte. Rasch aß er das Brot und den Käse, dann spülte er beides mit einem Becher Traubensaft herunter. Im Anschluss machte er sich auf den Weg in die Therme seiner Villa und ließ sich den Dreck der Reise entfernen.„Wie steht es mit den Bauarbeiten des Leuchtturms?", verlangte er zu erfahren und musterte den Kommandanten des Kastells.
„Er wird in ungefähr zwei Monaten einsatzbereit sein, Princeps", erklärte der Mann nervös und Gaius nickte mit ernster Miene. In der vergangenen Stunde hatte er sich von den Mitgliedern seines Stabs über jede Kleinigkeit informieren lassen. Auf dem Tisch vor ihm lagen Landkarten, auf denen besonders der Oceanus Britannicus gut zu sehen war. Das geringe Wissen, welches sie über Britannien besaßen, stammte noch von Caesar und Aurelia hatte ihm immer wieder die verschiedenen Gründe aufgezählt, weshalb er sich auf die von ihr angefertigten Karten nicht verlassen konnte. Aber im Moment reichte das Wenige, was sie bereits wussten, für die weitere Planung vollkommen aus. Oberste Priorität war die Überquerung des Fretum Gallicum. Danach würde er auf Vericas Unterstützung zählen können. Verica war der Anführer der Atrebaten, zu denen Rom ein Amicitia-Verhältnis pflegte und Vericas Hilfegesuch aufgrund der Bedrohung seines Herrschaftsgebietes durch die Catuvellaunen legitimierte Gaius' gesamten Britannienfeldzug. Der Leuchtturm war nicht nur eine Garantie für ihre sichere Hinfahrt, sondern auch für die lebenswichtigen Getreidelieferungen und später für ihre Rückfahrt. Denn Gaius bezweifelte stark, dass sie auf der Insel genügend Vorräte für seine Legionen finden würde und er wollte auf alles vorbereitet sein. Eine hungernde Legion war eine unberechenbare Legion, die nicht nur schlechter kämpfte, sondern sich im schlimmsten Fall gegen ihre Befehlshaber stellen würde. Hunger macht böse hatte Aurelia mal leise gemurmelt. Sie hatte so recht.
„Gibt es Neuigkeiten von der Legio II Augusta?", fragte Gaius und die Stille ließ ihn von der Betrachtung seiner Landkarten aufblicken. Onkel Claudius schüttelte leicht den Kopf und Gaius unterdrückte ein Stöhnen. Sofort richtete er seine Aufmerksamkeit auf Sabinus und wollte von ihm wissen, ob er etwas von seinem Bruder gehört hätte. Sabinus schüttelte ebenfalls nur den Kopf. Nachdenklich rieb sich Gaius den Nacken. Drei Legionen waren zu wenig, um ganz Britannien zu befrieden.
„Sie wird sicher bald hier eintreffen", meinte Gaius und ignorierte den überraschten Blick seines Onkels. Onkel Claudius hatte aufgrund seiner körperlichen Beschwerden noch nie an einem Feldzug teilgenommen und Gaius wusste, dass Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit in einer Schlacht die Vernichtung der ganzen Armee bedeuten konnte. Dennoch hielt er es für besser seine Legaten nicht schon anzuklagen, wenn sie sich nicht vor ihm verantworten konnten. Hoffentlich hatte Vespasian bei seiner Ankunft in Gesoriacum einen guten Grund für seine Unpünktlichkeit vorzuweisen. Sabinus' Miene blieb unbewegt. Entweder wusste er wirklich nichts oder er wollte es ihm nicht verraten. Leicht beunruhigt forderte Gaius den Anwesenden der beiden Flavius-Brüder auf über den Zustand seiner eigenen Legion zu berichten. Aber Gaius hörte Sabinus nur mit halbem Ohr zu. Immer wieder glitten seine Gedanken zu dem Bruder ab, der fehlte.
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Aurelia
Historical FictionIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...