Träge blinzelnd öffnete Aurelia die Augen. Das war nicht die weiße Tapete ihres Zimmers. Widerwillig stöhnend drehte sie sich nach links und mit einem Schlag war sie hellwach. In der Wand neben sie war ein riesiges Fenster eingelassen und dieser Blick verschlug ihr den Atem. Unter ihr glitzerte sanft das Meer und sie hatte noch nie zuvor etwas Schöneres gesehen. Vorsichtig richtete sie sich auf und rutschte näher an das Fenster, sodass sie nun davor kniete. Behutsam streckte sie die Hand aus und Erleichterung durchströmte sie, als ihre Finger auf Glas trafen. Sie atmete tief ein und saugte das Bild in sich auf.
Viel zu schnell wandte sie sich ab und nahm den Rest des Zimmers in Augenschein. Beim Anblick der vielen Bücher und Schriftrollen, die sich in den Regalen an die übrigen Wände schmiegten, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Am Rande registrierte sie das Sofa in der Ecke nicht unweit vom Bett mit Blick auf das Meer, vor dem ein kleiner Tisch stand und das Schreibpult - natürlich ebenfalls mit Blick aufs Meer -, auf dem ordentlich abgelegte Papierstapel ruhten.
Hastig stand sie auf und wäre beinahe über den Stuhl gestolpert, den jemand ans Bett gestellt hatte. Kurz flackerte eine Erinnerung an das Bett ihrer Oma auf, aus dem sie als Kind immer nachts gefallen war, weshalb ihre Großmutter immer kurzerhand einen Stuhl davor gestellt hatte. Unwirsch schüttelte sie den Kopf und ihre Gedanken klärten sich. Plötzlich begann sich die Welt um sie herum wieder zu drehen. Kraftlos sackte sie auf den Stuhl und schloss die Augen.
Kaum verlor sie das Schwindelgefühl, stand sie nun etwas langsamer auf und ging zu den Bücherregalen hinüber. Fasziniert glitten ihre Fingerspitzen zärtlich über die Rücken, unschlüssig, welchen sie zuerst herausziehen sollten. Wahllos griff sie sich ein Buch und öffnete es bedächtig.
ANNALESQ.ENNIUS
Es dauerte einen Moment bis sie begriff, welchen Schatz sie in den Händen hielt. Ungläubig blätterte sie von Seite zu Seite. Ohne Unterbrechung verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen. Vollkommen überfordert schlug sie das Buch zu, nur um es sofort wieder zu öffnen und sich in die erste Seite zu vertiefen. Zärtlich wanderte ihr Zeigefinger von einem Buchstaben zum Nächsten und verweilte kurz, wenn er das Ende eines Wortes erreichte. Was würden ihre Lateindozenten nur alles geben, nur um diese lückenlose Version der Annalen des Quintus Ennius untersuchen zu können. Sie versank vollkommen in dieser alten Sprache, dass sie nicht hörte, wie jemand hinter sie trat. Um so heftiger erschrak sie, als eine Stimme plötzlich sagte: „Du bist schon wach"
Aufgeschreckt fuhr sie herum und blickte in das ausdruckslose Gesicht eines jungen Mannes. Mit einem Mal fiel ihr alles wieder ein: die Höhle, der Tunnel und der wütende Mann am Strand. Er war es.
Plötzlich begannen ihre Beine zu zittern, das Buch rutschte ihr aus der Hand und alles drehte sich wieder. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hob er sie hoch und trug sie behutsam zum Bett. Unerwartet sanft legte er sie ab. Als er sich abwandte, stieg Panik in ihr auf und sie hielt ihn am Arm zurück.
Überrascht blickte er auf ihre zarte Hand, die sich in seinen muskulösen Arm krallte und sein Mund verzog sich zu der Ahnung eines Lächelns. Langsam, aber bestimmt, löste er ihre Finger, nahm ihre Hand in seine, zog sich den Stuhl heran und setzte sich zu ihr.
Dann ruhte der Blick seiner Augen, deren Blau sie an den Himmel an einem stürmischen Tag erinnerte, berechnend auf ihr, als wollte er ihr so ihre ganzen Geheimnisse entlocken. Zaghaft lächelnd verschränkte sie ihre Finger mit den seinen, da er ihre Hand nun schon mal hielt. Ein kleiner Laut der Überraschung entfuhr seinen Lippen und ihr Lächeln wurde breiter.
Stirnrunzelnd befühlte er mit seiner freien Hand ihre Stirn und begann sogleich zu Fluchen.
„Mädchen, du bist ja glühend heiß", murmelte er und sie kicherte. Sie war gewiss keine puella. In diesem Moment machte es Klick und sie richtete sich abrupt auf, sodass ihre Köpfe zusammenstießen. Er sprach Latein. Unsicher, da sie es nicht gewohnt war auf Latein zu sprechen, öffnete sie den Mund und schloss ihn zugleich, als sie ein Wachstäfelchen mit Griffel entdeckte. Flink griff sie danach und begann zu schreiben: QUI ES? UBI SUM?
Wieder runzelte er die Stirn, einen Augenblick betrachtete er sie und sie zwang sich verzweifelt ja nicht die Augen zu schließen. Entschlossen nahm er ihr die Schreibutensilien weg und legte sie achtlos auf das Schreibpult hinter sich ab ohne ihre linke Hand loszulassen. Mit seiner Rechten drückte er sie zurück ins Kissen und flüsterte sanft: „Schlaf, formosa, schlaf"
Träge schüttelte sie den Kopf, woraufhin er die Augen zusammenkniff, als wäre er es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach.
„Sag mir, wer du bist", forderte sie schwach. Doch bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, fielen ihr die Augen zu und sie sank in einen unruhigen Schlaf. Immer wieder drangen Stimmen an ihr Ohr, doch sie konnte kein Wort verstehen.Als sie das nächste Mal zu Bewusstsein kam, war es tiefste Nacht. Vorsichtig setzte sie sich auf. Endlich hatten sich ihre Augen an das spärliche Licht gewöhnt. Auf dem Sofa schlief der Fremde. Im Schlaf sah er aus wie ein Engel: friedlich, sanft und wunderschön.
Auf dem Stuhl neben ihrem Bett stand ein Becher, den sie langsam ergriff und an den Mund führte. Der Geruch verschiedener Gewürze drang in ihre Nase. Kurz zögerte sie, doch dann trank sie den Becher begierig aus.
Erschöpft sank sie zurück in das weiche Bett und sobald sich ihre Lider gesenkt hatten, fiel sie in einen traumlosen Schlaf.
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Aurelia
HistoryczneIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...