Langsam wich die Kälte aus ihrem Körper und ihr Geist wurde klarer. Als ein Fremder erklärte, er müsse die Kranke zur Ader lassen, war sie schlagartig wach. Ruckartig öffnete sie die Augen und setzte sich auf. Ein heftiger Schmerz schoss ihr in den Kopf und Aurelia entfuhr ein kleines Wimmern.
Vor ihr standen in einem unbekannten Zimmer ein kleiner Mann mit einem Messer und ein wunderschönes, junges Mädchen. Ihr rabenschwarzes Haar war kunstvoll aufgesteckt, die Augen schimmerten blau im gedämpften Licht der Kerze. Sie sah aus wie ein römisches Schneewittchen. Die beiden Fremden starrten Aurelia überrascht an.
„Kein Aderlass!", krächzte sie mühsam und wich hastig zurück, als der kleine Mann sich ihr zu nähern versuchte. Hilfesuchend wand sie sich an das fremde Mädchen. Nach kurzem Zögern befahl diese dem alten Mann unwirsch das Zimmer zu verlassen. Ohne zu murren verbeugte er sich vor ihr und verließ den Raum.
Erleichterung durchströmte Aurelias Körper. Vorsichtig nahm sie das Zimmer in Augenschein. Es war geräumig mit dem Bett, in dem sie gerade lag, einer Truhe unter dem verschlossenen Fenster und einem Tisch mit einem kleinen Schemel.
Das Schweigen dauerte an. Vorsichtig stand Aurelia auf und öffnete das Fenster. Die frische Luft entnebelte ihren benommenen Geist.
„Du solltest dich wieder hinlegen", sagte das Mädchen überraschend sanft, als sie Aurelias Arm fasste. „Du zitterst schon"
Widerstandslos lies sich Aurelia die wenigen Schritte zum Bett führen und sank wieder in die Kissen. Sie spürte wie sich die Bettkante senkte, als sich die Fremde zu ihr setzte und erwiderte verwirrt deren freundlichen Blick. Das Mädchen hielt ihr fordernd einen Becher entgegen, den Aurelia dankend ergriff und vorsichtig nach römischer Sitte im Liegen zu sich nahm. Jetzt machte sich Gaius' harter Unterricht bezahlt, denn sie schüttete sich keinen einzigen Tropfen über. Neugierig musterte sie das lächelnde Schneewittchen.
„Mein Name ist Julia, ich habe dich am gestrigen Morgen am Strand gefunden", stellte sich das Mädchen vor. „Du hattest sehr großes Glück, Aurelia"
„Woher kennst du meinen Namen?", wollte Aurelia überrascht wissen und Julia lachte auf. Erneut musterte Aurelia das Mädchen gründlich und mit einem Schlag fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Neben ihr saß die Julia, Julia Livilla, Gaius' jüngste Schwester. Sofort fielen ihr weitere Gemeinsamkeiten zwischen den Geschwistern auf und unbewusst sprach sie ihren vollen Namen erneut aus. Daraufhin wurde Julia ernst, nickte und erklärte ein Name reiche vollkommen aus, da sie als einzige von ihren Schwestern so gerufen wurde. Dann nahm Julia ihr den Becher aus der Hand, stand auf und wies Aurelia an sich auszuruhen. An der Tür hielt sie inne, drehte sich noch einmal zu Aurelia um und sagte leise: „Ich bin froh, dass du überlebt hast"
Mit diesen Worten ließ sie Aurelia verwirrt und erschöpft zurück.Nach drei Tagen wurde Aurelia es leid im Bett zu liegen und die Wand anzustarren. Die ganze Zeit bekam sie nur Julia zu Gesicht. Ob Agrippina und Drusilla sie nicht kennenlernen wollten? Aurelia traute sich nicht zu fragen. Vielleicht hatten sie auch einfach viel zu tun.
Zögerlich stand sie auf und trat ans Fenster. Eine leichte Brise wehte ihr durchs Haar und mit einem Mal bekam sie Heimweh. Ihre Eltern fehlten ihr schrecklich. Ihnen hätte es hier sicherlich gut gefallen, sie hatten das Meer immer genauso geliebt wie sie. Was wohl ihre Mutter von Gaius halten würde? Sicherlich hätten weder ihr Vater noch ihre Mutter zunächst irgendwelche Vorurteile - bis sie sich auf Wikipedia seine Seite durchgelesen hätten. Auf einmal tauchte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf: Gaius in schwarzer Jeans und weißem Hemd am Stubentisch ihrer Eltern, während diese geschockt zwischen ihren Handydisplays und seinem freundlichem Gesicht hin und her blickten. Bei diesem Gedanken musste sie unwillkürlich lächeln.
Ein leises Klopfen gegen den Türrahmen ließ sie zusammenfahren. Betont gelassen wandte sie sich um und war überrascht zwei fremde, junge, einfach gekleidete Mädchen dort stehen zu sehen und nicht Julia. Fragend musterte sie die beiden. Ängstlich erwiderten die beiden ihren Blick. Das Schweigen wurde langsam unerträglich. Schließlich gab sich die Linke, eine kleine Rothaarige, einen Ruck und murmelte leise: „Die jungen Herrinnen haben uns geschickt, um Euch fertig zu machen, Herrin. Ihr werdet heute zum Geburtstagsmahl der jungen Herrin Agrippina erwartet"
Ein letztes Mal blickte Aurelia hinaus auf das in der Ferne glitzernde Meer, dann begab sie sich auf den Stuhl. Das andere Mädchen, die ebenfalls zierlich, aber blond war, zog Aurelia am Arm hoch und führte sie sicheren Schrittes aus dem Zimmer, den Gang entlang in ein kleines Bad. Dort schrubbte sie Aurelia gekonnt mit Seife jeglichen Dreck vom Körper, entfernte jedes kleine Härchen mit Wachs (an dieser Stelle sehnte Aurelia sich nach ihrem Rasierer, der wohl leider immer noch in ihrer Reisetasche im 21. Jahrhundert war) und rieb anschließend Aurelias Körper mit duftenden Ölen ein. Unauffällig schnupperte sie an sich und nahm erleichtert einen Hauch von Lavendel wahr. Aurelia hasste nichts mehr als Vanille. Welches Mädchen roch freiwillig gern wie ein Dessert? Sie parfümierte sich ja schließlich auch nicht mit Schokolade. Das kleine Mädchen schwieg eisern während ihrer Arbeit und Aurelia traute sich (abgesehen während der Haarentfernung, da musste sie ernsthaft versuchen nicht jedes Mal laut aufzuschreien) nicht das Wort an sie zu richten. Wortlos half ihr das Mädchen in eine saubere Tunika und führte sie zurück in ihr Zimmer. Dort hatte die kleine Rothaarige bereits sorgsam Kleidungsstücke bereitgelegt und unheimlich viele Fläschchen, Döschen, Kämmchen und Bürsten auf dem Schminktisch abgelegt. Die Blonde schloss leise die Tür hinter ihnen. Freundlich lächelte Aurelia die Mädchen an, doch diese wichen stur ihrem Blick aus.
Mit einem kleinen, frustrierten Seufzen setzte sich Aurelia auf den Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Mein Name ist Aurelia", stellte sie sich freundlich vor. „Bevor ihr noch mehr für mich erledigt, möchte ich gerne eure Namen erfahren. Das Schweigen ist mir unangenehm und es gefällt mir nicht, dass ich nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe"
Die beiden Mädchen wechselten einen überraschten Blick und erröteten. Aurelia verdrehte genervt die Augen. Sanft ihre Finger auf den Unterarm trommelnd wartete sie erwartungsvoll.
„Herrin", flüsterte die Blonde unsicher und fixierte unsicher den Boden. Bevor sie weiter reden konnte, verlangte Aurelia, sie mögen ihr endlich in die Augen sehen.
„Aber Herrin!", protestierte die Rothaarige. „Das gehört sich nicht! Bitte steht auf, damit wir Euch beim Ankleiden helfen können"
Stur verharrte Aurelia in ihrer Position. Nicht einmal die Namen ihrer Helferinnen zu wissen erschien ihr einfach nur außerordentlich unhöflich.
„Nara", flüsterte die Rothaarige schließlich und die Blonde stieß sie unsanft mit dem Ellenbogen an. Unsicher hob Nara den Blick und schaute aus jadegrünen Augen zu ihr auf. „Das hier ist Belana"
„Es freut mich euch kennenzulernen", erwiderte Aurelia erfreut und stand auf. Verwirrt schaute Belana ihr nun ebenfalls ins Gesicht und Aurelia strahlte die beiden Mädchen an. Der erste Schritt war getan.
Schweigend legten ihr Nara und Belana die seidigen Gewänder an. Das Kleid schimmerte wie das Meer bei Nacht und das Tuch leuchtete silbrig im schummrigen Licht. Am Schminktisch kämmten sie sorgfältig ihr langes Haar, welches sie zu einer kunstvollen Frisur aufsteckten. Am liebsten hätte Aurelia es einfach offen getragen, aber sie gaben sich so viel Mühe jede einzelne Stelle an ihren Platz zu bringen, dass Aurelia ihnen nicht widersprechen wollte. Während sie Aurelia schminkten, sprachen sie sie manchmal zaghaft an. Ob ihr der Lippenstift gefalle oder sie den Lidstrich stärker ziehen sollten. Verwirrte Blicke wechselten sie, als Aurelia auf den Lidstrich ganz verzichten wollte und dafür nur die Wimpern mit der schwarzen Farbe betonen wollte.
„Ich trage nicht gern viel Schminke", erklärte Aurelia ernst und die beiden Mädchen nickten eifrig. Im Spiegel blickte ihr eine Frau aus einer anderen Zeit entgegen. Was eine andere Frisur und ein anderes Kleid alles ausmachten. Doch die Frau im Spiegel war immer noch Aurelia und irgendwie empfand sie es als tröstlich, dass sie immer noch sie selbst war. Lächelnd bedankte sie sich bei Nara und Belana, diese nickten nur beschämt und verließen eilig das Zimmer.
Stirnrunzelnd begutachtete sie ein letztes Mal ihr Spiegelbild, dann machte sie sich auf die Suche nach dem Speisezimmer.
Gaius hatte ihr das Gebäude gut beschrieben. Ohne sich ein einziges Mal zu verlaufen erreichte sie den Saal, indem schon einige Männer und Frauen beisammen lagen. Unsicher verharrte Aurelia auf der Schwelle und ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Aus der Menge löste sich Julia und kam lächelnd auf sie zu.
„Guten Abend, liebe Freundin", wurde Aurelia freundlich begrüßt. Aurelia schenkte Julia ein strahlendes Lächeln und bewunderte staunend das Fest. Julias Lächelns wurde breiter, dann harkte sie sich bei ihr unter.
„Bist du bereit meine Schwestern kennenzulernen?", fragte sie mit einem verschmitzten Grinsen und zog Aurelia mit sich.
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Aurelia
Historical FictionIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...