Kapitel 82 ~ Agathos

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Aus dem Augenwinkel registrierte er, wie zum ersten Mal seit Wochen endlich die Anspannung aus ihrem Körper wich. Sobald sie das Tor passiert hatten, wirkte sie jünger und unbeschwerter. Ratternd fuhr die Raeda über die Straße und entfernte sich immer weiter von diesem zischenden Schlangennest, aber Clemens ließ sich von diesem schönen Schein nicht täuschen. Auch hier konnte an jeder Ecke eine neue Bedrohung lungern.
Die vergangenen Wochen hatten für jeden von ihnen große Anstrengungen bedeutet. Denn obwohl nur fünf Menschen den wahren Grund für die Entfremdung der Schwägerinnen kannten, kochte an jeder Ecke die Gerüchteküche fleißig und erschwerte seine Arbeit. Nichts war so gefährlich wie ein Skandal – besonders wenn er sich auf die Politik übertragen ließ. Dennoch hatte es ihn seltsamerweise überrascht, wie selbstsicher und gelassen Aurelia mit dieser belastenden politischen und privaten Situation umging. Als die Senatoren sie auf Agrippina angesprochen hatten, hatte sie nur den Kopf gehoben und wissen wollen, was diese Angelegenheit mit der Getreideversorgung zu tun habe. Die Geschichte hatte sich beinahe so schnell verbreitet wie ihr Vorhaben die öffentlichen Toiletten zu reinigen und zu sanieren. Das Volk liebte sie bedingungslos, aber der Treue des Senates würde sie sich nie wirklich sicher sein können. Deshalb war ein Teil von Clemens mehr als froh, dass sie Rom für die Sommerferien des Senats verließen. So wäre ihr Geheimnis wenigstens noch für ein paar wenige Wochen sicher.

Ausgerechnet in der Nähe von Formae verdüsterte sich der Himmel und als ihn der erste Regentropfen traf, erkannte er, dass sie es nicht bis zu ihrer geplanten Unterkunft schaffen würden. Im gleichen Moment zog Aurelia die Vorhänge der Raeda zurück und blickte skeptisch zum Himmel hinauf.
„Ein Gewitter zieht auf", erklärte er überflüssiger Weise und sie nickte besorgt. Natürlich fragte sie, was er nun vorhabe. Frustriert verlangsamte Clemens sein Pferd, damit er dichter neben ihr reiten konnte.
„Ganz in der Nähe liegt eine Villa. Dort können wir warten, bis das Gewitter vorüber ist", schlug er vor und natürlich war sie sofort einverstanden. Widerwillig trieb er sein Pferd wieder an und informierte den Kutscher und seine Prätorianer über das neue Ziel. Wenig später frischte der Wind auf. Im gleichen Moment lenkte er sein Pferd in den von Zypressen gesenkten Pfad und ignorierte die Gefühle, die ihn zu überwältigen drohten. Wie von Geisterhand öffnete sich das Tor und Clemens nickte in die Richtung des Torwächters. Als sie den Innenhof erreichten, schüttete es bereits in Strömen. Donner grollte und Clemens sprang eilig von seinem Pferd, um Aurelia aus der Raeda zu helfen. Aber sie stand bereits auf dem wenig kunstvoll gepflasterten Steinen des Innenhofes und schaute sich neugierig um. Den Regen schien sie gar nicht zu spüren. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein verzaubertes Lächeln aus. Sie tauchte erst aus ihren Gedanken auf, als Julius ihre Hand nahm. Irritiert schüttelte sie den Kopf und blickte zu ihrem Sohn herunter. Erst jetzt schien sie den Regen zu bemerken, der die Kleider ihres Kindes innerhalb weniger Augenblicke durchtränkt hatte und zog den Jungen eilig in den Schutz des Laubenganges. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Clemens das Haus und registrierte einen Schatten, der eilig von einem der oberen Fenster zurückwich. Routiniert gab er alle nötigen Anweisungen, dann stapfte er auf die offene Eingangstür zu. Nervös trat Aurelia zu ihm und erkundigte sich leise, wer hier wohnte. Langsam drehte er sich zu ihr um und antwortete schlicht: „Meine Frau"
Ihre Augen wurden riesig und ihr Blick glitt ins Leere. Kurz flackerte Frustration über ihr schönes Gesicht. Dann wurde ihre Miene freundlich und höflich-interessiert – es war beängstigend, wie schnell sie diesen Schutzmechanismus von ihrem Mann übernommen hatte. Bald würde nichts sie mehr so aus der Fassung bringen können, dass ihre Maske verrutschte. Sie war schon lange nicht mehr das hilflose Mädchen, welches er auf Capri versteckt hatte.
Rasch wandte er sich ab und betrat die Eingangshalle. Der Klang ihrer Schritte folgte ihm und unwillkürlich ließ er seinen Blick über die vertrauten Wände gleiten. Seine Augen waren noch immer die prunkvollen und geschmackvoll gestalteten Villen der Julier gewöhnt, weshalb ihm sein eigenes Zuhause beinahe leer und ärmlich erschien. Den Boden zierte kein mythologisches Mosaik, sondern ein schlichtes, ineinander verworrenes Muster an geometrischen Figuren und Schemen. An den Wänden befanden sich weder farbenfrohe Teppiche noch aufwendig gemalte Fresken. Gerade als er sich bei ihr entschuldigen wollte, bemerkte er ihren seltsam verträumten Gesichtsausdruck, der ihm schon im Innenhof aufgefallen war.
„Du hast eine sehr schöne Villa", erklärte sie lächelnd und Clemens schnaubte, sie sei schlicht. Aurelia verdrehte die Augen und zog Julius enger an sich.
„Sie ist elegant", gab sie zurück. „Aber vor allem ist sie ein richtiges Zuhause und kein kaltes, unpersönliches Protzobjekt, das mehr für das öffentliche Auge als für das private Leben gebaut worden ist"
Nachdenklich betrachtete er noch einmal die Schlichtheit seines Hauses, in dem er gemeinsam mit seiner Schwester Clementina so viele Sommer verbracht hatte. Dieses einfachere, unbeschwertere Leben lag schon so lange hinter ihnen.
Ein freudiger Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Am Treppenaufgang erschien ein Junge, der sogleich die Treppe hinunter gerannt kam. Lächelnd breitete Clemens die Arme aus und im nächsten Moment fiel ihm sein Sohn in die Arme. Bei den Göttern, wie groß er geworden war! Seine Mutter folgte ihm mit angemessener Geschwindigkeit. Ihr Blick huschte nervös zwischen Aurelia und ihm hin und her, bis er an dem kleinen Julius haften blieb, der sie schüchtern anlächelte. Behutsam löste sich Clemens von seinem Sohn, richtete sich auf und legte die Hand auf seine Schultern. Besorgt musterte Fannia Julius, dann ratterte sie eine Reihe von Befehlen herunter, denen die Sklaven sofort nachkamen.
„Ich habe dein Kommen nicht erwartet, Marcus", meinte Fannia kühl und wich seinem Blick aus. Aurelias Augenbraue hob sich leicht.
„Es war eine sehr spontane Entscheidung", antwortete Clemens und richtete seine Aufmerksamkeit auf Aurelia, die wieder ihre höflich interessierte Maske trug. Schnell stellte er die beiden Frauen einander vor und das Lächeln auf Aurelias Gesicht wurde wärmer.
„Ich bin sehr erfreut Euch kennenzulernen, Fannia", grüßte Aurelia mit einem freundlichen Lächeln und streckte ihre Hand aus. Einen Augenblick musterte Fannia die ausgestreckte Hand und als sich das unangenehme Schweigen ausdehnte, fürchtete Clemens bereits das Schlimmste. Bevor er einschreiten konnte, ergriff Fannia Aurelias Unterarm und murmelte ein paar Worte, die wohl Respekt und Ehrfurcht ausdrücken sollten. Aber natürlich war sich Clemens vollkommen bewusst, dass seine Frau nicht wusste, wer vor ihr stand. Woher auch? Sie lebte hier so zurückgezogen und war so desinteressiert an dem für sie unendlich weit entfernten Geschehen in Rom, dass sie die wichtigste Frau des Reiches nicht kennen konnte. Dennoch starb er in diesem Augenblick tausend Tode und eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf wisperte ihm zu, dass er seinen Posten nach dieser Reise an jemandem mit einer respektvolleren Frau abtreten durfte. Aber Aurelias Lächeln blieb warm und freundlich, als sie ihren Arm sanft zurückzog und Julius vorstellte, worauf Fannia Marcus vorstellte und Clemens sich bei dem Gedanken ertappte, ob nun alle miteinander bekannt waren oder ob er jemanden vergessen hatte. Aurelia begann Fragen über den Stil der Villa zu stellen, worauf Fannia so knapp wie möglich antwortete. Innerlich wand sich Clemens vor Scham und bohrte unwillkürlich seine Finger tiefer in die Schulter seines Sohnes. Als Marcus schließlich leise wimmerte, ließ Julius die Hand seiner Mutter los und blickte vielsagend zu ihm auf. Unauffällig zog Clemens seine Hand zurück und Marcus entspannte sich augenblicklich. Die Jungen begannen sich leise zu unterhalten.
Bevor Aurelia ein weiteres Thema anschneiden konnte, erschien eines ihrer Mädchen und warf leise ein, dass die Zimmer nun vorbereitet sein. Erleichtert beobachtete er, wie sie sich noch einmal bei Fannia für ihre spontane Gastfreundschaft bedankte und dann im Inneren der Villa verschwand. Marcus bot Julius an ihn herumzuführen, sobald Julius seine klitschnassen Gewänder gegen Trockene getauscht hätte und so ließen ihn die Jungen gut gelaunt mit seiner Frau im Atrium allein. Nach ein paar Herzschlägen des Schweigens gab Clemens sich einen Ruck und erkundigte sich leise, ob sie sich freue ihn zu sehen. Zum ersten Mal seit er das Haus betreten hatte, blickte sie ihn an und er musste sich zwingen vor der Kühle ihres Blickes nicht zurückzuweichen.
„Ist sie deine Geliebte?", fuhr Fannia ihn leise an und ihr Vorwurf traf ihn vollkommen unvermittelt. Kannte sie ihn wirklich so schlecht, dass sie ihm so etwas unterstellte? Wie konnte sie nur so etwas von ihm denken? Seine sonst so gut kontrollierten Gefühle schwappten über. Mit einem Satz sprang er nach vorn, knallte gegen sie und presste sie mit seinem Körper gegen die Wand. Grob zwang er sie ihm in die Augen zu sehen.
„Sie ist die Frau des Princeps!", zischte er aufgebracht und sorgfältig darauf bedacht, dass nur sie seine Worte hören konnte. „Falls du es vergessen hast, verdanke ich allein ihrem Mann meinen Posten. Ihre Sicherheit ist genauso meine Pflicht wie deine! Allein das Gerücht unsere Beziehung sei tiefer, könnte uns alle den Kopf kosten, bei den Göttern, Frau, hüte deine Zunge, bevor du uns alle ins Verderben stürzt!"
Keuchend blickte sie zu ihm auf und erwiderte, dass er ihre Frage nicht beantwortet habe. Frustriert knurrte er und fuhr sanft mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht. Fannia war schön, nicht übernatürlich schön wie Aurelia, sondern menschlich schön. Für ihn erreichbar schön.
„Deine Eifersucht ist unbegründet, Fannia. Du bist meine Frau. Sie löst in mir keine anderen Gefühle aus als meine kleine Schwester", wisperte er und hauchte Fannia einen federleichten Kuss auf die Wange. Dann ließ er abrupt von ihr ab, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte in Richtung seines Gemachs davon.
„Warne mich das nächste Mal bitte vor, wenn du beschließt deine Arbeit mit zu uns nach Hause zu bringen. Dann kann ich mich wenigstens darauf vorbereiten", rief Fannia ihm atemlos hinterher. Sie musste einfach immer das letzte Wort haben. Ihre Schritte verschwanden in die entgegengesetzte Richtung. Wahrscheinlich musste sie ihren Frust an einem der Küchensklaven auslassen.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt