Fasziniert sog Aurelia den Anblick des nächtlichen Roms in sich auf. Als sie sich leicht über die marmorne Brüstung des Balkons beugte, wurde ihr zum ersten Mal wirklich bewusst, dass Rom auf Hügeln erbaut war. Denn auch wenn sie noch so oft von den sieben Hügeln gelesen hatte, so blieb die Stadt in ihrer Vorstellung doch ebenerdig und flach. Aber nun erstreckte sich unter und auf den Hügeln neben ihr die ewige Stadt, die gar nicht daran dachte zu schlafen. Denn auch wenn sie sich in einem der vornehmeren Vierteln Roms befand, dem Palatin, so konnte sie von diesem Hügel die Lichter der Tavernen und Bordellen nur zu deutlich leuchten sehen. Manchmal meinte sie auch Hufgeklapper zu hören. In ihrem alten Leben hatte sie einmal gelesen, dass die schweren Fuhrwerke nur nachts in die Stadt durften. Damals hatte sie New York für die Stadt gehalten, die niemals schläft. Doch hier und jetzt empfand sie den Namen für Rom treffender.
Mit einem Lächeln wandte sie den Blick zum Himmel empor und erneut verschlug ihr die Schönheit dieser Zeit den Atem. Auf Vespasians Landgut hatte sie die Sterne noch besser sehen können als in Rom, doch auch hier gab es nicht genügend Licht, um die Sterne wie in ihrer eigenen Zeit zu überstrahlen. Je länger sie hinaufblickte, desto mehr Sternbilder meinte sie zu erblicken, die in zweitausend Jahren verblasst und verschwunden waren. Nicht dass sie wirklich gut in Astronomie wäre - an ihren schlechten Tagen fand sie noch nicht einmal den großen Wagen, doch wenn sie die Sterne betrachtete, entdeckte sie ihre eigenen Motive und fühlte sich weniger verloren.
Plötzlich legten sich sanft zwei angenehm warme Arme auf ihre, sein vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase und automatisch lehnte sie ihren Rücken an seine muskulöse Brust. Die Wärme seines Körpers hüllte sie ein wie eine warme Decke und sie fühlte sich geborgen und beschützt. Sie schwiegen eine Weile und genossen einfach nur die Gegenwart des anderen. Zum ersten Mal, seit sie sich wiedergefunden hatten, waren sie allein.
„Ich bin so froh, dass du bei mir bist", flüsterte Gaius ihr zärtlich ins Ohr. Vorsichtig drehte sie sich einmal um die eigene Achse, schlang ihre Arme um seinen warmen Bauch und blickte lächelnd zu ihm auf. Statt etwas zu erwidern stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte sanft ihre Lippen auf seinen Mund. Als hätte er nur darauf gewartet, fuhr er ihr durchs Haar und zog sie noch näher an sich heran. Während ihr Herz mit den Schmetterlingen in ihrem Bauch um die Wette flatterte, wurde sie von einer Welle von Verlangen erfasst. Sie wollte mehr. Immer mehr von ihm. Viel zu schnell löste er ihre Lippen voneinander und lehnte seine Stirn sanft gegen ihre. Zittrig und atemlos blickte sie ihm in die Augen und fand in ihnen die gleiche Leidenschaft und Begierde, die sie in jeder Faser ihres Körpers spürte. Zärtlich legte sie eine Hand auf seine Wange und fragte ihn leise, warum er aufgehört hatte. Leise lachte er und strich ihr liebevoll eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Weil ich endlich alles richtig machen möchte", gestand er leise und erwiderte offen ihren Blick. „Jahrelang hatte ich keine Kontrolle über jeden klitzekleinen Bereich meines Lebens. Ich habe Dinge tun müssen, auf die ich nicht stolz bin und für die ich mich selbst verachte. Tiberius hat mir beigebracht Gefühle auszunutzen. Lust, Begierde, Sex – für ihn waren das Mittel zur Demonstration und zum Ausleben von Macht und ich wusste, egal wen ich verführen sollte oder wer mich in seinem Auftrag verführte – jedes Wort, jede Berührung, einfach alles wurde ihm erzählt. In einer Nacht, als er besonders betrunken von seinem Fest mit einer seiner Geliebten auf sein Zimmer torkelte, begegnete er mir auf einem der Korridore. Als er mich entdeckte, lachte er und schickte sie vor. Dann kam er zu mir und raunte mir grinsend in sein Ohr, was er bereits alles über mich in Erfahrung gebracht hatte und wie er gemeinsam mit dem Prätorianerpräfekten vor Macro, Sejanus, die Ehefrauen meiner beiden älteren Brüder gegen sie verwendet hatte. Versteh mich nicht falsch – ich vertraue dir mehr als irgendeinem anderen Lebewesen auf dieser Welt. Durch dich habe ich erkannt, dass Liebe nicht die Unterwerfung des Schwächeren ist, sondern Ebenbürtigkeit. Deshalb möchte ich, dass es etwas ganz besonderes ist, wenn wir das erste Mal wirklich zusammen sind und kein gestohlener, überstürzter Moment der Schwäche. Ich möchte dich heiraten, damit wir wirklich für alle Zeit eins sind. Natürlich möchte ich auch später mit dir über alle Neider lachen können, die behaupten, du hättest dich hochgevögelt"
Nachdenklich spielten ihre Finger mit seinen Haaren.
„Ich kann dich verstehen", hauchte sie leise. „Ehrlich gesagt gibt es auch etwas, worum ich dich vor unserer Hochzeit gerne bitten möchte"
Lächelnd nickte er und zog sie näher an sich heran, um sie vor der Kälte der Nacht zu schützen.
„Ich nehme an, bevor wir heiraten, werden wir kaum allein sein und wenn doch, dann wird unsere Zeit wie jetzt sehr begrenzt sein. Wenn wir uns sehen, dann wird es auf öffentlichen Veranstaltungen und Festen geschehen. Das verstehe ich. Du bist immerhin das Oberhaupt eines riesigen Reiches. Aber ich hätte gerne ein Date"
Verständnislos blickte er auf sie herab.
„Was, bei Pluto, ist bitte ein Date?", fragte er verwirrt. Aurelia lachte leise in sich hinein und nach kurzem Überlegen erklärte sie ihm nervös die Strukturen der modernen Verabredung. Langsam verschwanden die Falten auf seiner Stirn und seine weichen Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.
„Dann gehen wir morgen in den Zirkus – die Aussicht aus meiner Loge wird dir gefallen", strahlte er, doch Aurelias Gesicht verdüsterte sich. Besorgt musterte er sie.
„Ich möchte Zeit mit dir verbringen, Gaius", erklärte sie leise. „Nicht mit dem Princeps, während seine Untertanen uns zusehen"
Verständnisvoll nickte Gaius und zog sie wieder enger an sich heran. Langsam begann er die feinen Unterschiede zu erkennen und je mehr er darüber nachdachte, desto größer wurde auch in ihm der Wunsch einen Tag einfach nur ein normaler junger Mann mit seiner wunderschönen Verlobten zu sein.
„Was hast du im Sinn?", fragte er mit einem verschmitzten Grinsen, von dem ihr ganz warm ums Herz wurde. Mit einem verschwörerischen Lächeln auf den Lippen stellte sich Aurelia auf die Zehenspitzen und raunte ihm ihren Plan ins Ohr. Kaum hatte sie geendet, zog er sie näher an sich und vergrub den Kopf in ihrer Halsbeuge. Lächelnd schloss sie die Augen und kostete jede kostbare Sekunde aus.
Ein Räuspern holte sie zurück in die Gegenwart. Rückartig schlug sie die Augen auf und wich einen Schritt von Gaius zurück. Dieser drehte sich missmutig zum Störenfried um.
„Wir würden gern aufbrechen, Aurelia", meinte Vespasian verlegen und kratze sich am Hinterkopf. Dann erinnerte er sich wieder, dass er kein kleiner Junge mehr war und stellte sich aufrechter hin. „Möchtest du uns immer noch begleiten?"
Aurelia nickte knapp und Vespasian verschwand wieder im Haus. Ihr Blick begegnete dem ihres Verlobten.
„Gute Nacht", raunte sie und hauchte einen federleichten Kuss auf seine Halsbeuge. An etwas anderes kam sie gerade einfach nicht heran. Gaius beugte sich zu ihr hinunter und ihre Münder trafen einander.
„Gute Nacht", flüsterte er, als sie sich voneinander lösten. Mit verschränkten Armen lehnte er sich lässig gegen die Brüstung des Balkons, während Aurelia bedrückt den Balkon verließ. Als sie die Schwelle betrat, rief er ihr ein fröhliches „Bis morgen!" hinterher. Lächelnd drehte sie sich zu ihm um und er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Das glückliche Lächeln verschwand auch dann nicht aus ihrem Gesicht, als sie eine Stunde später im Haus ihres Adoptivvaters in ihrem Bett lag und langsam in einen traumlosen Schlaf glitt.
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Aurelia
Historical FictionIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...