Ihre Frage hallte in seinen Ohren nach, aber er verstand sie nicht. Ihre Stimme zitterte vor Angst. Bedächtig wandte er sich ihr zu und versuchte ihren Blick aufzufangen. Aber sie stand mit dem Rücken zu ihm am geöffneten Fenster und blickte über das nächtliche Rom.
Geräuschlos schlich er zu ihr und legte sanft seine Arme um sie. Ihr Körper zitterte vor Anspannung. Behutsam zwang er sie sich in seinen Armen zu ihm zu drehen, sodass sie ihm in die Augen blicken musste. Tausend ungeweinte Tränen glitzerten in ihren wunderschönen Augen, in deren Tiefen er nach all den Jahren mit jedem einzelnen Blick erneut versank. Zärtlich nahm er ihr Gesicht in die Hände und hob es dem seinen entgegen. Instinktiv schmiegte sie sich an ihn und er sog ihren berauschenden Geruch ein.
„Wie kannst du nur einen Augenblick glauben, dass du eine schlechte Mutter bist?", fragte er sie ungläubig. Mit einem Blick brachte er ihren schwachen Protest zum Schweigen. Verzweifelt suchte sie in seinen Worten nach Halt, als er fortfuhr: „Es gibt nichts, was du für unsere Kinder nicht tun würdest. Du hast meinen Platz eingenommen – im Staat sowie in unserer Familie. Kein Lehrer ist in deinen Augen gut genug für Britannicus, weil du das Beste für ihn ebenso sehr willst wie ich. Du hast Tonilla vor meiner Schwester beschützt, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickt hat, obwohl diese Aufgabe mir hätte zufallen müssen. Ich hätte euch beide vor ihr beschützen müssen. Aber immer hast allein du uns vor allen Gefahren beschützt. Wir haben beide kostbare Zeit mit unseren Kindern geopfert, damit sie in Sicherheit aufwachsen können. Wenn das aus dir eine schlechte Mutter macht, dann muss ich ebenfalls ein grauenhafter Vater für sie sein"
Schluchzend brach sie in seinen Armen zusammen und klammerte sich an ihn. Behutsam zog er sie enger an sich und hielt sie einfach nur fest. Sein Herz brach bei ihrem Anblick und Wut loderte in seinem Inneren auf. Wer wagte es seine starke, selbstbewusste Frau, die beste Mutter, die er sich für seine Kinder hätte wünschen können, derart zu verletzen.
Immer noch weinend hob sie den Kopf und drückte ihre salzigen Lippen fordernd auf seinen Mund. Ihr betörender Geschmack entflammte seinen Körper. Augenblicklich versiegten ihre Tränen. Endlich glaubte sie ihm. Gerade als er sie hochhob, um sie zu ihrem Bett zu tragen, wurden die Türen zu ihrem Gemach aufgerissen und zerstörte ihren Moment. Wütend spähte Gaius über ihre Schulter und blickte in die ernsten Gesichter seiner Prätorianerpräfekten. Sofort stellte er Aurelia zurück auf ihre Füße.
„Wir werden angegriffen", erklärte Suetonius. Aurelia nickte Clemens zu, der auf dem Absatz kehrt machte und mit großen Schritten den Raum verließ, während Aurelias Finger sich zwischen Gaius' schoben und sie ihn zwang ihr zu folgen. Im Nebenraum schliefen friedlich ihre Kinder. Sofort machte Aurelia sich los und nahm ihre Tochter auf den Arm, während Gaius zu Britannicus rannte und den Jungen weckte. Sein Sohn war sofort wach und sprang aus seinem Bett. Über Tonillas Schulter fing Gaius Aurelias Blick auf und verstand. Er schnappte sich die Hand seines Sohnes und verließ das Zimmer. Aurelia und Suetonius waren direkt hinter ihnen.
Angestrengt lauschte Gaius auf die Geräusche in seinem Zuhause. Aus dem Atrium drang das vertraute Klirren aufeinanderprallender Waffen an sein Ohr und seine unbändige Wut brachte sein Blut in Wallung. Aber seine oberste Priorität war es Aurelia und die Kinder in Sicherheit zu bringen.
Zu seiner Überraschung konnte Britannicus mit ihm Schritt halten. Aber sie kamen dennoch langsamer voran, als es Gaius lieb war. Leise rief Britannicus seiner Mutter zu, dass er einen Plan habe. Aurelias Erwiderung konnte Gaius nicht verstehen. Immer wieder ermahnte er seinen Sohn leise, dass er auf keinen Fall langsamer werden dürfte.
Abrupt erstarben die Kampfgeräusche und im nächsten Atemzug kam hastiges Fußgetrampel die Treppe hinauf. Aufmerksam lauschte Gaius auf ihre Schritte und versuchte die Distanz zu errechnen. Als er Suetonius hinter sich leise fluchen hörte, wurden seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Automatisch streckte er die Hand aus und bekam Aurelias Arm zu fassen. Verzweifelt versuchte er schneller zu werden. Da fiel ihm auf, dass der Atem seines Sohnes mittlerweile nur noch stoßweise ging und dem Jungen Schweiß über die Stirn rann.
Unaufhaltsam kamen die Eindringlinge näher und Gaius wusste, dass sie ihnen nicht entkommen konnten. Sein Griff um Britannicus' Hand und Aurelias Arm wurde automatisch stärker, während er sein Tempo erneut zu steigern versuchte. Ihre Lage war aussichtslos. Aber plötzlich hielt ihn ihre kleine Hand zurück und er blieb mit einem Ruck stehen. Fragend wandte er ihr den Blick zu und konnte in ihren meerblauen Augen lesen, dass sie das Gleiche dachte wie er. Wortlos reichte sie ihm ihr kleines Mädchen und beugte sich zu Britannicus hinunter. Aus den Falten ihres Kleides holte sie einen Dolch hervor und drückte ihn in seine zitternde Kinderhand.
„Pass auf deine Schwester auf", raunte sie ihm zu und küsste seine Stirn. Dann stand sie auf, lauschte und gab Gaius einen flüchtigen Kuss.
„Sag Clemens, wir gehen zu Plan Horatius", flüsterte sie und er packte mit seiner freien Hand ihren Arm. Unfähig ihren Worten einen Sinn zu entnehmen suchte er in ihrem Gesicht nach Antworten. Für einen Herzschlag vergaß er die Eindringlinge in seinem Haus und versank in ihren wunderschönen Augen, die vor Entschlossenheit strotzten.
„Sie werden mir nichts tun", versprach sie sanft und befreite sich aus seinem Griff. „Eure Leben sind wertvoller als meins"
Bevor er sie aufhalten konnte, machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte den Angreifern entgegen. Ohne zu zögern ergriff sie das Schwert einer Statue und zu Gaius' Überraschung glitt ein Gladius aus der Scheide. Seit wann waren die Holzattrappen durch echte Schwerter ersetzt worden? Als sie um die Ecke verschwand, spürte er eine Bewegung an seinem rechten Bein. Ein gewaltiger Krach ertönte aus der Richtung, in die Aurelia verschwunden war und ihre Verfolger hielten einen Augenblick inne. Vermutlich berieten sie sich. Im nächsten Augenblick hielt er die Hand seines Sohnes, die ihn weiterzog. Fort von ihr. Fort von den Angreifern und Gaius' Geist erwachte aus seiner Starre. Instinktiv verstärkte er den Griff um seine Tochter und gerade als er seinen Sohn ebenfalls hochheben wollte, zerrte ihn der Junge zu einem der Wandteppiche, hinter dem sich ein schmaler, dunkler Tunnel befand. Selbstsicher zog ihn der Junge weiter.
Tonilla krallte sich in den Stoff seiner Tunika und Gaius fuhr ihr beruhigend über den zierlichen Rücken. Seine Kinder waren das Einzige, das ihn in der Wirklichkeit hielt. Gerade als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, gelangten sie ans Ende des Tunnels. Sie befanden sich in einer Sackgasse. In Gedanken fluchte er kurz, da zupfte Britannicus an seiner Hand und deute auf ein unscheinbares Symbol, welches sich außerhalb seiner Reichweite befand. Widerwillig ließ Gaius die Hand seines Sohnes los und legte seine bebenden Finger auf das Symbol. Er musste noch nicht einmal großen Druck auf den Stein ausüben. Sofort glitten die Steine geräuschlos auseinander und gaben einen Raum frei, in dem es vor Prätorianer nur so wimmelte. Obwohl der Raum voller Menschen war, herrschte eine bedrückende Stille.
Erleichterung durchflutete seinen Körper, als er Julia bei den Kindern entdeckte. Als sie seinen Blick auffing, kam sie sofort zu ihm und nahm ihr die vollkommen verstörte Tonilla ab. In ihren Augen las er die gleiche Frage, die er so verzweifelt aus seinen Gedanken zu bannen versuchte: Wo war Aurelia?
Seine Schwester ignorierend blickte Gaius sich suchend im Raum um und entdeckte Clemens, der sich bereits einen Weg durch die Menge auf ihn zu bahnte. Wortlos schritt Gaius zu ihm und augenblicklich wichen die anderen Menschen vor ihm zurück.
Sobald er Clemens erreichte, wiederholte er Aurelias Parole. Augenblicklich wurde der Prätorianerpräfekt still und für einen Augenblick blinzelte er ihn nachdenklich an. Dann wich jegliche Farbe aus seinem blassen Gesicht. Rasch drehte er sich um und bellte Befehle. Am Rande seines Bewusstseins registrierte Gaius, wie Suetonius zu ihm trat, während Clemens mit einem kleinen Teil der Männer durch einen anderen Geheimausgang verschwand. Vollkommen erstarrt verharrte Gaius auf der Stelle. Sein Inneres schrie und bebte vor Schmerz, während sein Körper keine Reaktion zeigte. Sein Herz raste vor Angst. Denn zum ersten Mal seit acht Jahren bestand die Gefahr, dass er sie verlieren könnte.
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Aurelia
Tarihi KurguIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...