04. Dezember 37
Der Tag, den sie so lange herbeigesehnt und gefürchtet hatten, brach draußen vor den Fenstern an. Schon seit Stunden lag Aurelia hellwach in Gaius' sicheren Armen, während er friedlich schlief. Wie gern würde sie weiterschlafen, doch in ihrem Kopf rasten die Gedanken und nur seine vertraute Wärme verhinderte, dass die Angst sie übermannte. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, wer von ihnen beiden heute wohl das größere Risiko eingehen würde. Seit Wochen hatte sie mit Antonia und Gaius an dem Plan gefeilt, doch nun fragte sie sich, ob ihr Plan auch wirklich ausgereift genug war oder ob sie in ihr Verderben liefen. Manchmal fühlte es sich so an, als ob ihre kleine Welt, die sie sich hier im Herzen Roms geschaffen hatten, jederzeit durch einen Stups von Außen um sie herum zum Einsturz gebracht werden konnte und die Trümmer sie unter sich begraben würden. Aber ganz gleich welcher Herausforderung sie sich auch stellen musste, Gaius war jedes Risiko wert und Aurelia würde ihr Leben geben, um ihn zu retten, in dem Wissen, dass er das Gleiche jederzeit für sie tun würde und auch schon getan hatte. Ganz gleich welche Seite sich heute durchsetzen würde, Rom würde morgen nicht mehr die gleiche Stadt sein.
Während sie still da lag, rief sie sich die wichtigen Punkte der heutigen Zeremonie in Erinnerung. Doch ganz gleich wie oft sie die Worte der Gebete oder den Ablauf der Rituale gedanklich durchging, ihre Angst verlor sie dadurch nicht.
Plötzlich regte sich Gaius und Aurelia beobachtete, wie sich flatternd seine Lider hoben. Seine Lippen formten sich zu einem verschlafenen Lächeln und er zog sie enger an sich.
„Guten Morgen", flüsterte er glücklich und für den Augenblick gelang es ihm ihre Sorgen zu vertreiben.Ihr rasches Frühstück nahmen sie ungestört in ihrem Wohnbereich ein. Ein entspanntes Gespräch über Philosophie hielt ihre Gedanken von der Bedeutung des heutigen Tages ab. Doch als der letzte Kelch geleert und das letzte Krümelchen gegessen war, senkte sich nervöses Schweigen über sie. Mit zittrigen Fingern stellte Aurelia ihren Kelch ab, erhob sich und strich ihre Kleider glatt. Behutsam legte Gaius seine Hand auf ihren Oberarm.
„Du schaffst das!", sprach er ihr Mut zu und zog sie in seine Arme. Tief atmete sie seinen vertrauten Duft ein und versuchte die Panik niederzukämpfen. Wie gern würde sie ihm heute beistehen, doch sie musste hier ihre Pflicht erfüllen.
„Pass auf dich auf", flüsterte sie ihm ins Ohr und drückte ihn eng an sich.
„Ich verspreche es", hauchte er zurück, löste sich aus ihrer Umklammerung und nahm ihre Hand in seine. Sanft küsste er ihre Wange und sandte einen wohligen Schauer über ihren Rücken. Sein schiefes Grinsen ließ ihr Herz höher schlagen und am liebsten hätte sie mit ihm noch einmal die Welt vergessen, doch dafür fehlte ihnen die Zeit. So liefen sie gemächlich Hand in Hand zum Atrium, in dem sich bereits alle Männer ihres Haushaltes versammelt hatten. Unter den Anwesenden entdeckte Aurelia Clemens bei den übrigen Prätorianer, die sich um Macro gesammelt hatten und sobald die gefühllosen Augen des Präfekten die ihren trafen, stieg Übelkeit in ihr auf und sie klammerte sich an Gaius' Hand. Beruhigend fuhr er mit dem Daumen über ihren Handrücken und Aurelia entspannte sich.
Die Blumen für die Zeremonie waren bereits angeliefert worden und erfüllten den Raum mit ihrem lieblichen Duft. Statt auf die Tür zuzusteuern, schritt Gaius würdevoll mit ihr zu einem der Sträuße. Lächelnd steckte er ihr eine Myrrheblüte in eine Locke ihrer Hochsteckfrisur, dann lehnte er seine Stirn leicht gegen ihre.
„Ich liebe dich", flüsterte er und drückte sanft seine Lippen auf ihren Mund. Augenblicklich versank die Welt um sie herum und ohne zu zögern presste Aurelia ihren ganzen Körper gegen seinen und legte ihr ganzes Herz in diesen einen Kuss. Viel zu früh musste sie ihn gehen lassen.
„Ich liebe dich auch", hauchte sie zurück und trat dann demütig einen Schritt zurück, damit Gaius gehen konnte. Als sie den Blick hob, bohrten sich Macros Augen in die ihren, die das Gesehene verstehen wollten. Warum waren sie nicht subtiler vorgegangen? Ahnte er nun etwas?
Doch Aurelia nickte ihm nur leicht zu und Macros Miene entspannte sich. Vor einigen Wochen hatte Ennia versucht sich im Tempel der Bona Dea an Aurelia heranzuschleichen, als ihre Schwägerinnen gerade Myrre aus dem Garten besorgten. Ennia wollte Aurelia dazu überreden für Macro und sie Gaius' Geheimnisse auszuspionieren. Sollte er ruhig glauben, sie stünde auf seiner Seite.
Auf der Türschwelle wandte Gaius sich noch einmal zu ihr um, hauchte ihr einen Kuss zu und verließ dann mit den anderen Männer das Haus. Fröstelnd legte Aurelia die Arme um sich selbst, sobald sich das Portal hinter ihnen verschloss und ignorierte sich dem Bedürfnis hinzugeben sich zu übergeben. Stattdessen suchte sich Aurelia eine Beschäftigung, um ihre Gefühle auszublenden. Heute musste sie funktionieren. Sie alle mussten das.
So arrangierte sie mit den Sklavinnen die Blumen im ganzen Palast neu, während sie auf die Ankunft der anderen Damen wartete. Alles musste perfekt sein. Nach und nach gesellten sich Agrippina, Drusilla und Julia aus ihren Gemächern zu ihr und scheuchten die armen Sklavinnen kräftig herum.
Als sich das Portal zum ersten Mal öffnete, trat Antonia ein. Erleichtert hieß Aurelia die erhabene Dame willkommen und reichte ihr eine Schale mit einem Wasser-Öl-Gemisch, damit sie ihre Hände vom Schmutz der Außenwelt für das Fest der Bona Dea abwaschen konnte.
„Du siehst strahlend aus, meine Liebe", ermutigte Antonia sie und fuhr fort: „Wer hatte die Idee mit der Blüte?"
Zum ersten Mal seit dem Abschied von Gaius brachte sie ein echtes Lächeln zustande.
„Gaius", antwortete Aurelia schlicht und Antonia erwiderte ihr Lächeln. Sie öffnete den Mund, wahrscheinlich um ihr zu versichern, dass ihr Plan nicht scheitern konnte, doch in diesem Moment öffnete sich das Portal erneut und Ennia trat mit ihren treuen Freundinnen ein. Schnell klappte Antonia ihren Mund wieder zu und trat hinter Aurelia, die mit einem herzlichen Lächeln die Ankommenden begrüßte. Zu ihrer Überraschung trat eine von Ennias Freundinnen nach vorn, die bis eben in ein angeregtes Gespräch mit Ennia vertieft gewesen zu sein schien und die Aurelia bisher im Tempel nicht aufgefallen war. Neben ihr versteifte sich Antonia leicht und die Fremde öffnete mit bösartig funkelnden Augen den Mund zum Sprechen. Rasch beugte sich Antonia zu Aurelia und flüsterte so laut, dass jeder sie verstehen konnte.
„Dies ist Messalina, meine Liebe, die Frau...", setzte sie an und ohne Nachzudenken unterbrach Aurelia die Ältere aufgeregt.
„Von Claudius!", rief Aurelia aus und musterte fasziniert diese schöne Frau, über deren Grausamkeit sie am meisten in ihrer eigenen Zeit gelesen hatte. Nach Caligulas Ermordung riefen die Prätorianer Claudius zum neuen Kaiser aus und Messalina füllte den Platz aus, der nun Aurelia gehörte. Claudius musste sie dabei vollkommen unter Kontrolle gehalten haben, bis sie auf den Befehl seines Freigelassenen Narcissus entweder Selbstmord beging oder ermordet wurde - so genau wusste Aurelia es nicht mehr. Während sie in die hinterhältigen Augen Messalinas blickte und sie freundschaftlich umarmte, gab sich Aurelia erneut das Versprechen alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Gaius' Ermordung und Messalinas Aufstieg zu verhindern. Als sich die Frauen kurz darauf lösten, schenkten sie sich gegenseitig ein falsches Lächeln und behandelten einander mit nichts anderem als absoluter Höflichkeit. Unauffällig atmete Antonia erleichtert aus. Kein Außenstehender würde die Spannungen zwischen den beiden Frauen sehen, vermutlich würde man sie für Freundinnen halten und darüber vergessen, dass die eine den Platz der anderen aus ganzem Herzen begehrte.
Kaum waren alle Jüngerinnen der Bona Dea eingetroffen, begannen sie den Kultraum, einen der Speisesäle mit herrlichem Blick auf die Gärten, für die Rituale auszustatten. Am Abend zuvor hatte Aurelia bereits die Speiseliegen von den Männern entfernen lassen und nun errichteten sie einen wunderschönen Schrein. Neben der kunstvollen Bronzestatue der Göttin wurde ein Kohlebecken aufgestellt, dessen Anblick Aurelia einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Auf dem Boden verteilten sie eine Unmenge von Myrrhe, sodass man das herrliche Bodenmosaik nicht mehr erkennen konnte. Aus ganzem Herzen hoffte Aurelia, dass sich keine der Frauen während des Festes an den Dornen verletzen würde.
Musikerinnen richteten sich in einer Ecke ein und plötzlich kehrte Aurelias Übelkeit vom Morgen zurück. Sie versuchte Ablenkung in ihrer Rolle als Gastgeberin zu finden, doch die Abwesenheit von Gaius machte ihr zu schaffen. Mit ihm an ihrer Seite fühlte es sich an, als könnten sie die ganze Welt erobern. In Gedanken bat sie immer wieder alle Götter und Göttinnen, die ihr einfielen, sie mögen ihnen beiden in dieser wichtigen Nacht beistehen.Bei Anbruch der Dämmerung zog sich Aurelia in ihre Gemächer zurück. Es war Zeit das Zeremoniengewandt anzulegen und das eigentliche Fest zu eröffnen. Die gute Prunia folgte ihr wie ein Schatten. In den vergangenen Wochen war sie von Caenis ausgebildet worden und ab morgen würde sie bereits wieder fort sein, bis sie alle nötigen Fertigkeiten einer ausgezeichneten Sekretärin erworben hatte.
Als Aurelia ihr Schlafzimmer betrat, lag bereits sorgfältig auf dem Bett ausgebreitet das Gewandt der Hohepriesterin. Zu beiden Seiten hatten sich Nara und Belana aufgestellt und warteten auf Anweisungen. Aurelia atmete tief durch, dann nickte sie und ihre drei Mädchen machten sich an die Arbeit. Im Spiegel beobachtete Aurelia wie sie sich von einer ehrbaren römischen femina in eine Höhepriesterin verwandelte. Das Kleid war aus einem Hauch von weinroter Seide gewebt, welches von goldenen und grünlich schimmernden Ranken und Blüten verziert war. Nara entfernte geschickt den Schleier und öffnete ihre traditionelle Hochsteckfrisur, sodass Aurelias Haare in weichen Locken über ihre Schulter fielen. Von Julia wusste sie, dass jede Anhängerin bei diesem Fest mit wallendem Haar vor die Göttin treten musste.
Aus dem Spiegel blickte Aurelia eine römische Priesterin entgegen. Dankend verabschiedete sie sich von ihren Mädchen, die den Rest des Abends hier verbringen würden. Bevor sie um die letzte Ecke bog und von den anderen Frauen gesehen werden konnte, hob Aurelia ihre Handfläche waagrecht vors Gesicht. Sie zitterte heftig. Gequält schloss Aurelia die Augen und Gaius' Bild erschien vor ihrem inneren Auge. Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. Lächelnd schlug sie die Augen auf und atmete tief ein und aus. Sie würde nicht versagen. In den vergangenen Wochen hatte sie alles getan, alles gelernt und war perfekt vorbereitet.
Mit hoch erhobenem Kopf setzte sie sich in Bewegung, schritt selbstbewusst an den anderen Frauen vorbei, nahm ihren Platz im Kreis ein und blickte eine nach der anderen an. Hinter sich spürte sie die Wärme des Kohlebeckens. Erwartungsvolles Schweigen senkte sich über sie. Am liebsten wäre Aurelia davongelaufen, doch in diesem Moment begegnete sie Antonias Blick. Diese nickte ihr kaum merklich zu und Aurelias Fluchtbedürfnis verschwand.
Mit klopfenden Herzen kehrte sie den anderen Frauen den Rücken zu und streute Weihrauch und Myrrhe in das Kohlebecken. Die Asche entflammte die Kräuter sofort. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sicher würde man dies später als gutes Omen deuten. Zum Abschluss tunkte sie ihre Fingerspitzen in einen Weinkelch neben dem Becken und besprenkelte die brennenden Kräuter. Der ganze Raum wurde erfüllt von dem angenehmen Duft dieser Mischung.
Demütig fiel sie vor dem wunderschönen Altar auf die Knie. Fromm senkte sie den Blick vor dem Abbild der Göttin und Wärme durchflutete ihren Körper. Wie von selbst formten sich die Worte in ihrem Kopf und sie begann zu singen. Leicht und ganz natürlich kamen ihr die Worte über die Lippen. Die anderen Frauen stimmten in ihren Gesang ein und zum ersten Mal an diesem Tag hatte sie keine Angst.
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Aurelia
Ficción históricaIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...