Kapitel 61 ~ Perfectum Obscurum

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28.Januar 38 n. Chr.

Langsam füllte sich die Basilika und das Gewirr von wild durcheinander schnatternden Stimmen, welches zunächst nur ein sachtes Rauschen im Hintergrund gebildet hatte, schwoll immer weiter an und wurde immer schwerer auszublenden. Mit jedem weiteren Gesicht, welches Claudius in der anwachsenden Menge ausmachen konnte, wuchs die Aufregung in seinem Inneren. Noch konnte er das Geschehen im Schatten einer Säule beobachten, doch bald schon würde er seinen Platz auf der Bank des Anklägers im vermutlich wichtigsten Prozess des Jahres einnehmen müssen.
Sein ganzes Leben lang hatte seine Familie auf ihn herabgesehen, weil er anders war. Bereits als Kind hatte er gestottert, er war kränklicher als seine Geschwister, ein Missgeschick nach dem anderen passierte ihm und dann hatte er auch noch gehumpelt. Im Gegensatz zu seinem fünf Jahre älteren Bruder Nero war Claudius eine Enttäuschung für seine Eltern. Das spürte er, auch wenn sie es damals noch nicht aussprachen. Nur zu gut erinnerte er sich an den Tag, an dem einer seiner unzähligen Sprachlehrer sein Stottern in den Griff bekommen hatte. Damals war er fünfzehn. Übersprudelnd vor Glück hatte Claudius seinen Lehrer stehen gelassen und war zu Neros Haus geeilt. In dessen stattlicher Bibliothek hatte Claudius seinem Helden voller Stolz flüssig den Anfang der Ilias zitiert. Sein großer Bruder war sein Idol und Claudius hatte alles getan, um genau so zu werden wie er. Denn Nero war hübsch, klug und was er auch tat, gelang ihm. Ihn verblüfft zu sehen, erfreute Claudius. Doch seine Freude verschwand, als Nero ohne ein Wort zu sagen aufstand und sich vergewissernd, dass sie allein waren, jeden Winkel seiner Bibliothek überprüfte. Erst danach trat Nero zu ihm, packte ihn bei den Schultern und beschwor ihn mit glühendem Blick, niemanden davon zu erzählen, was Claudius heute erreicht hatte. Blanke Angst spiegelte sich in Neros Augen. Eiskalte Wut hatte Claudius ergriffen, weshalb er den Bruder unwirsch abzuschütteln versuchte. Doch Nero war schon immer so viel stärker gewesen als er und so scheiterten seine Versuche kläglich.
„Warum kannst du dich nicht einfach für mich freuen?", fuhr Claudius ihn gekränkte an und hörte auf sich gegen den festen Griff seines Bruders zu wehren. „Du wirst immer die erste Wahl bleiben! Warum kannst du mir dann diesen kleinen Erfolg nicht gönnen? Warum sollte ich geheim halten, dass ich nicht mehr Stunden für einen simplen Satz benötige? Warum bist du so..."
„Bruder", unterbrach Nero ihn eindringlich. „Siehst du nicht, in was für einer Welt wir leben? Gaius wurde heute Morgen tot aufgefunden! Vor nicht einmal zwei Jahren starb sein Bruder Lucius - zumindest glaubt das die Öffentlichkeit. Aber zwei junge, gesunde Männer sterben nicht einfach - vor allem nicht, wenn sie die Erben des mächtigsten Mannes des Staates sind. Irgendwer hat sie ermordet, weil sie im Weg waren. Wer in unserer Familie Erfolg hat, wird zur Zielscheibe! Willst du erfolgreich sein oder willst du lange leben? Eines Tages wird deine Zeit kommen, das verspreche ich. Aber du wirst diesen Tag nicht erleben, wenn du voreilige Entscheidungen triffst"
Wie vom Donner gerührt blickte Claudius zu seinem großen Bruder auf. Endlich begriff er die Angst in Neros Augen. Denn Nero hatte keineswegs Angst durch Claudius neue Möglichkeiten in den Hintergrund gerückt zu werden. Nero hatte Angst um ihn. Nero hatte ihn immer so gut er konnte vor allem beschützt. Langsam verstand Claudius, dass Nero ihm eine Möglichkeit zur Flucht vor einem von ihrer Familie fremdgesteuerten Leben ermöglichte. Wollte Claudius wirklich so werden wie sein Bruder? Wollte er eine Frau heiraten, die seine Familie für ihn aussuchte? Wollte er die Ämter bekleiden, die seine Familie für ihn vorsah? Wollte er Armeen führen, deren Siege nicht ihm, sondern dem Oberhaupt ihrer Familie zugeschrieben werden? Wollte er hell leuchten in der Gefahr viel zu früh zu erlöschen?
Nachdenklich nickte Claudius, beruhigt zog Nero ihn an sich und Claudius genoss diese seltene, kleine Geste der Zuneigung, welche er innerhalb ihrer Familie nur von Nero erhielt.
Immer noch tief in Gedanken kehrte Claudius in das Haus seiner Kindheit zurück und konnte ungesehen in sein Zimmer schlüpfen. Das Abendessen ließ er ausfallen. Am nächsten Morgen erlitt sein Sprachlehrer einen Nervenzusammenbruch, nachdem Claudius' Stottern über Nacht schlimmer geworden war als jemals zuvor.

Und nun stand er hier. Inmitten von lauter Gesichtern, die ihn verspottet und verachtet hatten, obwohl er sich einfach nur für das Leben selbst entschieden hatte. Keiner von ihnen verstand es, ein Teil seiner Familie zu sein. Wenige Monate nach seinem Gespräch mit Nero hatte Augustus Tiberius zu seinem neuen Erben ernannt und Tiberius hatte Nero zu seinem Nachfolger bestimmt. Nero heiratete Agrippina und führt ein Leben in der Öffentlichkeit, während sich Claudius immer weiter im Schatten seines strahlenden Bruders verkroch, den man zur Ehrung ihres Vaters Drusus Germanicus nannte. Aber für Claudius waren sein Bruder Nero und der Feldherr Germanicus zwei verschiedene Personen. Keine fünf Jahre nach Augustus' Tod wurde Germanicus vergiftet und alle potenziellen Nachfolger systematisch ausgelöscht: alle bis auf Germanicus' kleinen Goldjungen Gaius und ihn, Claudius, den stotternden Krüppel im Schatten. Und nun stand Claudius hier vor all den Menschen, die auf ihn herabgesehen, ihn verspottet und ihn klein gemacht hatten. Konnte er es wirklich riskieren seine Maske fallen zu lassen und der wahre Bruder des großen Germanicus zu sein?
Plötzlich legte sich eine warme, kleine Hand auf seinen Unterarm und riss ihn aus diesem Strudel aus Erinnerungen und Fragen, die er nicht beantworten konnte. Fragend bohrten sich die tiefen, blauen Augen der Aurelia Vespasia in die seinen und hielten ihn gefangen. In vielerlei Hinsicht erinnerte diese junge Frau ihn an seine verstorbene Schwägerin Agrippina. Wie Agrippina ging auch Aurelia an der Seite ihres Mannes nicht unter, sondern blühte auf und stärkte ihn. Ihre Intelligenz stand ihrer Schönheit ebenfalls in nichts nach.
„Ist alles in Ordnung?", erkundigte sie sich leise und ihr ehrliches Interesse beruhigte Claudius. Im Flüsterton gestand er ihr seine Nervosität. Ihr Blick wurde eindringlicher, als würde sie die Tiefen seiner Seele ergründen.
„Perfektion ist unmenschlich", sagte sie schließlich und linste an ihm vorbei in die Basilika. Mittlerweile hatte sich Claudius daran gewöhnt, dass er mit Aurelia philosophischere Gespräche führen konnte als mit den meisten Männern, die er kannte. „Unsere Fehler und Schwächen sind die Dinge, die uns ausmachen und wir können sie in unsere Stärken verwandeln, wenn wir wollen. Cicero hat sein Stottern nie ablegen können, aber es hat ihn nicht davon abgehalten zur größten Stimme seiner Zeit zu werden. Noch in zweitausend Jahren werden Menschen sich an ihn erinnern, seine Reden lesen und sich danach sehen, seine Stimme nur für ein einziges Mal erklingen zu hören. Es ist an der Zeit aus den Schatten hervorzutreten"
Kaum war ihr letztes Wort verklungen, nickte sie ihm aufmunternd zu, zog sich ihren Schleier vors Gesicht und tauchte tiefer in die Schatten ein. Nachdenklich folgte Claudius' Blick ihrer zarten Gestalt, die zielsicher auf einen Seiteneingang der Basilika zusteuerte. Direkt neben der unauffälligen Tür stand ein großer Mann, der sein zum Boden gerichtetes Gesicht geschickt mit den Falten seiner Toga verborgen hielt. Leichtfüßig trat Aurelia Vespasia neben den Mann, welcher aufsah. Seine Toga verrutschte und für einen kurzen Moment erwiderte der Mann Claudius' Blick. Er schenkte ihm ein aufmunterndes, schiefes Lächeln, welches dem Grinsen seines Vater schmerzhaft ähnlich war. Danach zupfte Gaius seine Toga zurecht und ergriff sanft die Hand seiner Gemahlin. Claudius atmete tief durch, nahm eine gerade Haltung an und wandte sich ab. Germanicus' Mörder hatte sich durch Selbstmord seines irdischen Gerichtsverfahrens entzogen. Danach hatte Claudius seiner Mutter anonyme Hinweise zukommen lassen, mit deren Hilfe sie Sejanus stürzen konnte, auf dessen Befehl beinahe die ganze Familie des Germanicus ausgelöscht worden war. Nachdem der kleine Gaius seinen Platz an der Spitze des Staates eingenommen hatte, hatte Claudius sich geschworen alles zu tun, um Germanicus' Goldjungen zu helfen. Für ihn hatte er sich mit Gaius zum Konsul ernennen lassen und bald würde Macro hereingeführt werden, der wie Sejanus vor ihm versucht hatte Claudius' Verwandten zu beseitigen. Dafür würde Claudius Macro vernichten. Niemand sollte es je wieder wagen seine Familie zu bedrohen. In den Tiefen seines Herzens spürte Claudius, dass seine Zeit nun gekommen war. Mit festen, selbstsicheren Schritten schritt Claudius zum Platz des Anklägers und nahm letztendlich seinen Platz in der Familie ein.

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