Kapitel 89 ~ Ars superandi

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Obwohl die Vorhänge im Schlafgemach zugezogen waren, damit kein Licht in den Raum fallen und die wichtigste Frau des Reiches wecken konnte, funkelten an der Decke über der Schlafenden ein Meer aus Sternen. Der kostbare und vollkommen einzigartige Schmuck war ein Geschenk ihres Mannes gewesen, der die Vorstellung romantisch gefunden hatte, jede Nacht mit ihr in seinen Armen unter einem schwach leuchtenden Sternenhimmel einzuschlafen. Nun, da ihr Mann fort war, wachten seine Sterne still und sanft leuchtend über sie.
Als Aurelia blinzelnd die Augen aufschlug und auf die vertraute Sternendecke blinzelte, fühlte sie sich entsetzlich allein. Automatisch legte sie eine Hand auf ihren Bauch, aber diese einfache Bewegung kostete sie sehr viel Kraft und ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Körper, als sie sich langsam aufrichtete. Mit einem Schlag überfluteten ihre Erinnerungen an die vergangenen, wachen Stunden ihren Geist und ihr Schmerz verblasste vor Sorge um ihre Kinder. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, wobei sie ihren protestierenden Körper ignorierte und zog die Vorhänge beiseite. Gleißendes Sonnenlicht blendete sie und erschrocken wich sie zurück. Es war bereits später Nachmittag. Mit panisch galoppierendem Herzen musterte sie besorgt die Stadt unter sich. Aber sie wirkte so friedlich wie noch nie.
Langsam sickerte die Erkenntnis zu ihr durch, dass sie am Leben war. In den Stunden der Geburt hatte es immer wieder Momente gegeben, in denen sie sich gefragt hatte, ob es sich lohnen würde weiter zu kämpfen. Aber Antonias Hand auf ihrer Schulter hatte sie daran erinnert, dass dies nicht das Ende sein durfte, weil sie immer noch gebraucht wurde.
Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen griff Aurelia nach ihrem seidenen Morgenmantel, zog ihn sich hastig über und verließ den Schlafbereich ihrer Gemächer. Im Essbereich saß Julia und stabilisierte das Köpfchen des Neugeborenen, während Julius vorsichtig seine kleine Schwester betrachtete, die ihm irgendjemand in die Arme gelegt hatte. Für einen Augenblick huschte Aurelias Blick auf die Tür ihres privaten Arbeitszimmers, die fest verschlossen war und hinter der sich mittlerweile die Arbeit auf ihrem Schreibtisch nur so stapeln musste. Aber ihre Aufgaben mussten sich noch einige Minuten länger gedulden.
Langsam schritt Aurelia zu ihren Kindern und setzte sich auf Julius' freie Seite. Der Junge drehte mit einem unsicheren Lächeln auf den Lippen seinen Kopf zu ihr und blinzelte zu ihr auf. Aus dem Augenwinkel nahm Aurelia wahr, wie Julia das Köpfchen sicher in Julius' kleine Hand legte, aufstand und sich in den Hintergrund zurückzog.
„Wie geht es dir, Mama?", wollte Julius leise wissen und linste schnell zu seiner kleinen Schwester, um sich zu versichern, dass sie noch immer tief und fest schlief. Sanft strich sie ihm eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht und gestand ihm leise, dass sie noch immer müde sei, ihr aber ansonst nichts fehlen würde. Forschend musterte er ihr Gesicht und nickte unmerklich. Julius spürte es, wenn jemand ihn belog. Seine goldenen Augen bohrten sich mit einer solchen Intensität in die des Lügenden, dass dieser seinem glühenden Blick nicht standhalten konnte und die Wahrheit gestand. Diese Fähigkeit würde ihm eines Tages sehr nützlich sein, wenn er in die Fußstapfen seines Vaters treten werde.
Still saßen sie beieinander und musterten das schlafende Kind. Das Mädchen war sogar noch kleiner als Julius es bei seiner Geburt gewesen war, aber auch sie war vollkommen makellos. Unter einem Flaum dunkler Haare befand sich ein süßes, kleines Gesicht, welches dem ihres Vaters so ähnlich war, dass sich Aurelia mit einem Schlag nichts sehnlicher wünschte, als diesen Moment mit Gaius teilen zu können.
Unwillkürlich zog sie ihre beiden Kinder enger an sich und versuchte die in ihr aufsteigende Traurigkeit niederzuringen. Letztendlich war es ein kleines, markerschütterndes Schniefen, welches sich zu einem gigantischen Geschrei entwickelte und wodurch Aurelia sich auf diejenigen konzentrieren konnte, die hier waren und nicht auf die, die es nicht waren.
„Habe ich etwas Falsches gemacht?", wollte Julius entsetzt wissen und drückte ihr von der Situation überfordert seine Schwester in die Arme. Automatisch begann sie das Mädchen zu wiegen, aber sie beruhigte sich nicht. Sanft versicherte sie ihrem Sohn, dass er nichts falsch gemacht hatte und seine Schwester vermutlich nur Hunger habe.
„Wirst du sie füttern?", fragte Julius arglos und Aurelia schrak zusammen. Im Zwiespalt mit sich selbst schaute sie auf ihre kleine Tochter hinab, die sich in ihren Armen wand und es brach ihr das Herz, sie so zu sehen. Aber Aurelia hatte bereits die Kräuter genommen, die Sophia ihr gegeben hatte und sie spürte, dass sie ihrer Tochter nicht geben konnte, wonach sie lautstark verlangte. Beruhigend drückte sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn, dann erhob sie sich und übergab sie einer Amme, die mit dem ersten Schrei des Kindes auf der Schwelle erschienen war.
Ihr Blick fiel auf ihren Sohn, der seiner Schwester wachsam nachschaute und dabei gedankenverloren mit der goldenen Bulla spielte, die er um den Hals trug. Leise trat Julia aus dem Hintergrund neben sie, legte kurz mitfühlend ihre Hand auf Aurelias Schulter und setzte sich dann wieder neben Julius. Mit einem wehmütigen Lächeln machte Aurelia auf dem Absatz kehrt und verschwand in ihrem Arbeitszimmer. Rom verlangte nach ihr. Aber bevor sie sich den Wachstafeln und Briefen widmete, zog sie einen neuen Bogen Papyrus hervor, legte ihn vor sich, tunkte ihren Stilus in die Tinte und begann den einen Brief zu schreiben, den sie schon vor Monaten aufsetzen wollte.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt