Kapitel 62 ~ Iudicum capitis

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Ein Raunen ging durch die Menge auf dem Forum und schwappte nur wenige Augenblicke auf die wartenden Menschen in der Basilika über. Scharf sog Gaius, der neben ihr im Schatten verborgen stand, die Luft ein und ergriff ihre Hand, als würde sie ihn in dieser Welt verankern. Beruhigend zeichnete sie mit ihrem Daumen Kreise auf seinen Handrücken. Neugierig begannen die Menschen vor ihnen die Köpfe zu recken. Ein jeder von ihnen wollte den Angeklagten zuerst erblicken, um ja keinen Augenblick dieses Ereignisses zu verpassen. Wann musste sich auch schon ein Prätorianerpräfekt öffentlich vor Gericht für seine Taten verantworten? Sejanus, Macros Vorgänger, war auf Wunsch von Tiberius durch den Senat verurteilt worden.
Nur mit Mühe gelang es Aurelia sich nicht von der Sensationsgeilheit des Volkes anstecken zu lassen. Denn zu oft hatte sie sich Zuhause in ihrem Zimmer oder in der Schule Ciceros Reden übersetzend sich einen römischen Prozess in den schillerndsten Farben ausgemalt. Doch als sie zwischen den Menschen einen Blick auf Macro erhaschte, der stolz und unbekümmert an den johlenden, pöbelnden und ihn beschimpfenden Menschen vorbeischritt, verflog der letzte Rest von Begeisterung und wich der gleichen nervösen Anspannung, die Gaius seit einigen Tagen ausstrahlte, sobald sie allein waren.
Dieser Mann, der sich gerade auf die Bank des Angeklagten setzte, hatte versucht ihr alles zu nehmen, was sie liebte. Am liebsten hätte Aurelia den Prozess übersprungen und selbst ein Urteil gesprochen. Doch Gaius und sie mussten klüger vorgehen. Wenn sie wie ihre Vorgänger ihre Macht missbrauchten und die Traditionen des römischen Volkes für ihre Zwecke zurechtbiegen würden, würden ihre unzähligen Gegner, die nur auf eine Gelegenheit warteten ihren eigenen familiären Anspruch auf die Führung des Staates geltend zu machen, diesen Machtmissbrauch früher oder später gegen sie verwenden.
Langsam schritt Claudius in die Mitte der Rednerfläche vor der Bank der Richter, verschränkte die Arme, legte den Kopf schief und musterte Macro wie ein Lepidopterologe einen besonders faszinierenden Schmetterling. Mit einem herausfordernden Lächeln auf den Lippen erwiderte Macro den Blick. Gespannt stellte sich Aurelia auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Nach und nach verstummte ein Zuschauer nach dem anderen. Erwartungsvolle Stille senkte sich über die Menge und Gaius verstärkte den Griff seiner Hand um die ihre. Mittlerweile hatte er sich so weit in die Schatten zurückgezogen, dass er hinter ihr stand und ihren Arm in einem unangenehmen Winkel auf den Rücken drehte. Nachdem sie sich versichert hatte, dass niemand sie beachtete, ging sie vorsichtig in die Hocke, drehte sich in Gaius' Griff und richtete sich wieder auf, sodass sich ihre verschränkten Hände vor ihrem Bauch befanden. Sofort zog Gaius sie enger an sich und drückte ihr einen federleichten Kuss auf den Scheitel, bevor er sein Kinn auf ihrem Kopf abstützte. So an ihn gepresst spürte Aurelia die große Anspannung seines Körpers und wünschte sich mehr für ihn tun zu können.
Auf der Rednerfläche schnaubte Claudius entrüstet und wandte sich den Richtern zu, die ihn interessiert beobachteten.
„Seht Ihr, Ihr ehrwürdigen Richter, die Frechheit dieses Mannes dort?", fragte Claudius die Stimme bebend vor Entrüstung und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Angeklagten. Sein Stottern war kaum zu hören und als die Menschen um sie herum zu flüstern anfingen, wünschte sich Aurelia weiter vorn in der Menge zu stehen. Der Blick eines der Richter, des Jüngsten, huschte nervös zu Macro, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem in seiner Rede fortfahrenden Claudius schenkte.
„Dieser Catilina wollte nicht nur durch doppelten Verrat meine Familie vernichten, sondern auch noch unseren Staat ins Verderben stürzen! Wenn Ihr wüsstet, oh Richter, welche Pläne er in seinem Geist umgewälzt hat! Nur einer wäre in der Lage, die Anklage gegen diesen Mann dort so vorzutragen, dass kein Zweifel an seiner größten Schuld bestehen könnte. Mein eigenes Können ist nur ein schwaches Echo der Stimme dieses großen Mannes, doch die Götter mögen meine Zeugen sein, heute soll sein Geist in mir einen Nachfolger finden. Marcus Tullius Cicero – hilf mir diesen Mann, der meine Neffen, meine ganze Familie und meinen Staat ins Unglück stürzen wollte, seine gerechte Strafe zukommen zu lassen! Wie dein Verres will nun auch er unsere Feiertage dafür missbrauchen die Verkündung seines Urteils so lang hinauszuzögern, dass sich niemand mehr an meine Rede erinnern wird. Seine Verbrechen werden in Vergessenheit geraten und die Gefahr, die noch immer von ihm ausgeht, wird uns weiterhin terrorisieren. Dies kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. So werde ich deinem Beispiel folgen und auf meine Anklagerede verzichten. Sollen wie bei dir die Beweise für sich sprechen. Ihr Richter, nicht nur das Volk von Rom hat seine Augen auf Euch gerichtet. Noch in Jahrtausenden werden sich Menschen an diesen Prozess erinnern und über uns alle richten. Lasst nicht zu, dass dieser Prozess der erste Schritt zur Vernichtung unseres geliebten Staates wird. Ich rufe nun meinen ersten Zeugen, meinen Neffen und Euren Princeps, Gaius Caesar Augustus Germanicus auf"
Ein Raunen ging durch die Menge und die Menschen wandten sich begeistert dem größten Eingang der Basilika zu, in dessen Nähe eine von Gaius' Sänften stand. Woher sollten sie auch wissen, dass sich Agrippina hinter den Vorhängen befand? Gaius erwachte aus seiner Starre. Kurz drückte sie seine Hand, bevor er sich von ihr löste und an den von ihm abgewandten Zuschauern vorbeistolzierte. Als er sich aus der Menge löste, schlug seine Hand mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung den Zipfel seiner Toga aus seinem Gesicht. Eine neue Welle der Aufregung erfasste die Menge. Begeistert wurde der Nebenmann angestupst und auf Gaius prächtige Erscheinung gedeutet. Aurelia zog sich automatisch tiefer in die Schatten zurück, als plötzlich eine Stimme in ihr Ohr raunte: „Bis jetzt scheint eure Strategie zu funktionieren"
Erschrocken fuhr Aurelia zusammen und funkelte Vespasian an, der wie Gaius für die Zuschauer auf der Rednerfläche aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht war. Flüsternd wollte sie wissen, warum er so plötzlich hier bei ihr war. Vespasians Mundwinkel zuckten.
„Glaubst du wirklich, dass Clemens Gaius und dich auch nur eine Sekunde unbeobachtet in einer Menschenmenge lassen würde?", fragte eine weitere vertraute Stimme auf ihrer anderen Seite. Sabinus hatte sich ebenfalls neben ihr aufgebaut und musterte skeptisch die Menschen in ihrer Nähe.
„Außerdem würden wir uns so ein Spektakel nicht entgehen lassen", fügte Vespasian leise hinzu und deutete dann mit dem Kopf zurück zu Gaius, der sich mittlerweile in der Mitte der freien Fläche befand. Geschickt führten Claudius und Gaius das einstudierte Frage-Antwort-Spiel auf und offenbarten den Anwesenden Stück für Stück alle Anschuldigungen, die gegen Macro erhoben worden waren. Macros Verteidiger, ein junger Advokat, flüsterte aufgeregt auf seinen Mandanten ein, welcher ihn gar nicht weiter beachtete. Immer noch mit diesem unverschämt arroganten Lächeln auf den Lippen betrachtete Macro das Schauspiel, welches Gaius mit seinem Onkel bot. Als sie zum Ende gekommen waren, erklang das ironische Klatschen eines Paar Hände. Aurelias Augen wurden schmal und am liebsten hätte sie sich ihren Weg durch die Menge gebahnt, um an Macro ihre durch die Schwangerschaftshormone angefeuerten Emotionen auszulassen. Doch dafür würde sie später noch genügend Zeit haben.
Macros Verteidiger funkelte seinen Mandanten böse an, dann richtete er ein paar verworrene Fragen an Gaius, deren Antwort Gaius bereits in seiner Aussage mit Claudius herausgearbeitet hatte. Geduldig wiederholte Gaius diese Passagen und der Verteidiger schluckte nervös.
„Ihr meintet, die besagte Hure, die mein Mandant dafür angeheuert haben soll Euch zu vergiften, habe Euch bereits in eines der Separees begleitet", fing der junge Anwalt an. „Weiter habt Ihr angegeben, dass Ihr plötzlich Eure Meinung geändert hättet. – Warum habt Ihr diese Frau, welche als die größte Versuchung Roms bekannt ist, abgewiesen?"
Gaius' freundliche Maske verrutschte keinen Wimpernschlag.
„Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich dieser Versuchung, wie Ihr es nennt, vermutlich nur zu gerne nachgegeben", antwortete Gaius im Plauderton und Aurelias Herz verkrampfte sich, während sich in ihrem Kopf sofort das Bild von Persia und Gaius formte.
„Natürlich gab es im Zimmer die bereits erwähnten Anzeichen wie die gelbe Toga, die mich aufschreckten. Aber auch diese Hinweise hätten mich damals nicht abhalten können. Etwas anders hat mich zurückgehalten und vor diesem Anschlag bewahrt. Denn seit ich zum ersten Mal einen Blick auf Aurelia Vespasia erhascht habe, konnte keine andere Frau auch nur den winzigen Funken eines Gefühls in mir auslösen. Sie war es, die mich vor meinem Untergang bewahrt hat"
Bei diesen Worten schoss Aurelia sofort das Blut in die Wangen und für einen kurzen Moment ertappte sie Gaius dabei, wie er in ihre Richtung schaute. Vespasian an ihrer Seite kicherte leise und stupste sie an, als würde er ihr etwas ins Ohr flüstern wollen, doch das lauter werdende Tuscheln und Schwatzen der umstehenden ließ seinen Kommentar in der Menge untergehen. Nervös sah sich Aurelia um und ihre Augen blieb an Macro hängen, der Gaius' Blick gefolgt war und sie in der Menge entdeckt hatte. Trotz der Entfernung zwischen ihnen spürte Aurelia sofort diese gefühllose Kälte, die Macro immerzu anhaftete. Höflich nickte sie ihm zu und Macros Lippen verzogen sich zu dem Anflug eines Lächelns. Gaius' weitere Worte, die sensationsgeile Menge, die so verschiedenen Brüder an ihrer Seite verschwammen zu einem einzigen Wogen im Hintergrund ihres Bewusstseins. Das leichte Lächeln des Mannes, der sie ohne zu zögern auf Capri getötet hätte, kam ihr erschreckend vertraut vor und von einer dunklen Vorahnung ergriffen, wurde Aurelias Körper taub. Sofort legte Aurelia eine gleichmütig höfliche Miene über ihre Züge und schob all die beunruhigenden Gedanken beiseite. Später würde sie ihre Theorie überprüfen, jetzt waren andere Dinge wichtiger.
Der tosende Applaus des Publikums lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen in der Mitte der Basilika, in der Gaius' Befragung geendet hatte. Mit festen Schritten marschierte er auf die Zeugenbank und richtete seinen Blick interessiert auf seinen Onkel, der gerade Clemens in den Zeugenstand rief.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt