In der Kürze der Zeit hatte Vespasius wirklich versucht ein Zuhause für ein junges Mädchen zu schaffen. In ihrem geräumigen Zimmer mit dem großen, einladenden Bett befand sich alles, was sie brauchte. Zwei große Truhen voller Kleider, ein Tisch mit einem Spiegel und so vielen Tiegeln und Fläschchen, dass Aurelia niemals einen Überblick gewinnen würde. Immer wieder hatte er sich dafür entschuldigt, dass er noch keine Sklavinnen für sie besorgt hatte. Doch Aurelia war es gelungen ihn zu beruhigen. Sie war schon froh, dass ihr Zimmer frei von Mosaiken wie im Rest des Hauses war. Auf jedem einzelnen Bild im Atrium hatte man Vespasius' Vorliebe für sein eigenes Geschlecht ablesen können. Auch die zarten, hübschen Gesichter seiner germanischen Sklaven, von denen der Älteste bestimmt noch keine zwanzig war, unterstrichen diesen Fakt. In ihrer eigenen Zeit würde man Vespasius als pädophiles, perverses Schwein vor Gericht zerren, aber hier war es ganz normal, dass ein römischer Senator sich mit kleinen Jungs vergnügte. Was waren das nur für verrückte Zeiten, in denen sie nun lebte. Es war keineswegs verwerflich das gleiche Geschlecht zu lieben. Verwerflich war es den passiven Teil in einer Beziehung einzunehmen. Es war etwas völlig anderes davon zu lesen als es tatsächlich mit eigenen Augen zu sehen.
Doch auch wenn Aurelia nicht verstand, warum sich Vespasius nicht einfach jemanden in seinem Alter suchte, hatte sie ihn zu schätzen gelernt. Er hatte viel für sie getan. Durch ihn hatte sie eine ehrbare Familie hinter sich und endlich eine Zukunft in dieser für Frauen schweren Zeit.
Still kämmte Aurelia ihre Haare. Ein leises Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken und sie rief, die Tür sei offen. Augenblicklich kam Vespasius ins Zimmer gewatschelt und erkundigte sich, wie ihr das Zimmer gefiele. Behutsam legte Aurelia die Bürste aus der Hand und erwiderte, es sei sehr schön. Etwas in ihrem Ton sorgte dafür, dass Vespasius nachhakte. Betreten blickte Aurelia zu Boden und gestand, dass sie Bücher vermisste.
„Du liest gern?", fragte er überrascht. Weiterhin seinen Blick ausweichend nickte Aurelia. Vespasius watschelte zum Fenster und begutachtete die breite Marmorbank.
„Ich werde dir nun das gleiche Angebot unterbreiten wie meinen Neffen: Du kannst dir jederzeit ein Buch aus meiner Bibliothek ausleihen", sagte Vespasius freundlich und Aurelia lächelte ihn zögerlich an. „Vom Fenster aus hast du einen herrlichen Blick auf den Garten. Sobald wir heute Abend aufgebrochen sind, werden meine Haussklaven hier ein paar Kissen für dich platzieren. Das ist ein schöner Platz zum Lesen"
Leise bedankte sich Aurelia und fragte, warum sie heute Abend das Haus verlassen würden.
„Eine gute Freundin von mir hat uns zum Abendessen eingeladen", erwiderte Vespasius locker und bedauerte sofort wieder noch keine Sklavinnen für seine Tochter gekauft zu haben. Aurelia überging sein Gejammer und begann nach Kleidern zu suchen, die sie auch alleine anbekam. Fragend hob sie zwei verschiedene hoch und Vespasius zeigte auf das Linke. Saphirblau. Zu dem hatte sie ebenfalls tendiert.
Prüfend hielt sich Aurelia eine Haarsträhne vors Gesicht. Doch sie allein mit diesem seltsamen Lockenstab einzudrehen, lehnte sie kategorisch ab. Schon an jedem modernen Gerät hatte sie sich die Finger oder die Kopfhaut verbannt, an diesem antiken Metallrohr würde sie sich nur unnötig verletzen.
„Aurelia?", sprach Vespasius sie sanft an und Aurelia schrak zusammen. Sie hatte ganz vergessen, dass er noch im Raum war. Fragend blickte sie ihn an. „Ich möchte dir das hier geben"
Der dicke Senator drückte ihr eine kleine, aber recht schwere Schatulle in die Hände. Aurelia setzte sich auf die Bettkante, stellte vorsichtig die Schatulle auf ihrem Oberschenkel ab und bewunderte die feinen Muster. Vespasius setzte sich zögerlich neben sie. Behutsam öffnete Aurelia den Verschluss und hob den Deckel. Juwelenbesetzte Ohrringe mit den dazu passenden Ketten, Armbändern und Ringen, goldene Fußkettchen, glänzende Spangen und wunderschön gearbeitet Broschen funkelten ihr entgegen. Überwältigt blickte sie ihn an.
„Das kann ich nicht annehmen, Vater!", sagte sie bestürzt, klappte den Deckel zu und wollte ihm die Schatulle zurückgeben. Vespasius hob beschwichtigend die Hände.
„Dies sind Familienerbstücke und ich möchte, dass du sie bekommst. Vespasian würde ziemlich albern damit aussehen", erklärte er schlicht und stand auf. „Du solltest dich jetzt fertigmachen. Wir brechen in einer Stunde auf"
Dann eilte er aus dem Raum. Seufzend stellte Aurelia die Schatulle auf ihren Schminktisch, schlüpfte in das blaue Kleid und zupfte den Gürtel zurecht. Ihre Haare würde sie einfach offen lassen. Sie tuschte sich die Wimpern. Nach einer Weile fand sie ein Pigment, dass ihrem Lieblingslippenstift im 21. Jahrhundert ziemlich nahe kam und bestrich sich mit einem feinen Pinsel die Lippen. In ihrer Schatulle fand sie ein dezentes, blaues Set. Die Steine an Hals und Ohren waren tropfenförmig geschliffen. Zu guter Letzt schnürte sie die blauen Schuhe zu und warf sich einen blauen Umhang über. Eine Falte des Umhangs drapierte sie sorgfältig über ihrem Kopf.
Zufrieden mit ihrem Werk schritt sie gemächlich ins Atrium, setzte sich dort auf den Rand des Springbrunnens und versuchte die Mosaike zu ignorieren. Nach ein paar Minuten setzte sich Vespasian in einer frischen Toga neben sie.
„Mit der Zeit gewöhnt man sich an sie", versicherte er und sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
„Weißt du, wer uns heute Abend zu sich eingeladen hat?", fragte sie ihn. Taktvoll ging er auf ihren Themenwechsel ein und wollte wissen, was sein Onkel ihr denn erzählt habe. Wahrheitsgemäß wiederholte Aurelia Vespasius' Worte. Vespasian lachte leise.
„Es sieht ihm ähnlich das Herunterzuspielen", meinte er leise und sah sich vorsichtig um. „Antonia Minor hat uns zu sich eingeladen"
Im Geiste formte sich sofort ein verworrener Stammbaum. Überrascht riss Aurelia die Augen auf.
„Gaius' Großmutter", dachte sie überrascht laut. Obwohl ihr Tonfall keine Frage bildete, nickte Vespasian. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas, dass sie vor ein paar Jahren über ihn gelesen hatte. In Antonias Haushalt lebte eine junge Sklavin, Vespasians Geliebte. Irgendwann hatte ihre Besitzerin sie freigelassen. Doch als Senator hatte er eine Freigelassene nicht heiraten können. Selbst als Vespasian eine andere heiratete und letztendlich Kaiser wurde, blieb sie bei ihm. Wie seltsam es doch war, dass sie all diese Dinge über ihn wusste und um wie vieles seltsamer, dass die meisten Dinge, von denen sie wusste, noch gar nicht geschehen war. Auf Aurelias Gesicht formte sich ein kleines Lächeln.
Bevor sie ihn nach seiner großen Liebe ausfragen konnte, kam Vespasius zu ihnen und sie machten sich auf den Weg. An der Tür wurden sie von einigen übel aussehenden Typen begrüßt. Instinktiv trat Aurelia hinter Vespasian. Dieser drehte sich halb zu ihr um und lächelte schief.
„Du brauchst keine Angst vor Magnus und seinen Brüdern zu haben. Sie sind hier, um uns zu beschützen", erklärte er belustigt und Aurelia schoss die Röte ins Gesicht. Verlegen ließ sie sich von ihrem Vater vorstellen. Die harten Männer lächelten sie freundlich an und Aurelia begann sich langsam in ihrer Gegenwart zu entspannen. Vielleicht war es ganz gut sie als Schutz um sich zu haben.
Nach nur wenigen Minuten erreichten sie die hell erleuchtete Stadtvilla ihrer Gastgeberin. Doch die Kälte war so heftig, dass Aurelia am ganzen Körper zitterte. Sie hätte sich einen wärmeren Mantel umlegen sollen.
Magnus klopfte am schweren Eisentor und ein tadelloser Mann mit regungsloser Miene ließ sie ein. Vespasian beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr, dass dies Pallas sei. Neugierig musterte Aurelia den Sklaven. Gaius hatte ihr viel über diesen Sklaven seiner Großmutter erzählt. Anscheinend war Pallas ein Genie für Verschlüsselungen und Strategien.
Die angenehme Wärme des Atriums jagte ihr einen wohligen Schauer über den Körper. Schnell lockerte Aurelia ihre Finger, um die Durchblutung anzuregen. Selbstbewusst reckte sie das Kinn, drückte ihre Schultern gerade und betrat zusammen mit ihrer Familie das Speisezimmer. Obwohl der Begriff Zimmer eine vollkommene Untertreibung war. Der Raum war größer als die Mensa an ihre Schule. In der linken Ecke des Raumes entlockten einige Musiker bereits ihren Instrumenten sanfte Melodien, in der Mitte befanden sich die Speiseliegen und überall verteilt standen Sklaven mit Krügen. Zwei der Liegen waren bereits besetzt. Auf der einen lag ein Mann Mitte vierzig, der mit monotoner Stimme mit der Frau im Zentrum des Raumes leise sprach. Sie war prunkvoll gekleidet, ihre Haut wies kaum Falten auf und ihre hellen Haare trug sie kunstvoll gesteckt. Aurelia war überrascht, wie eine so mächtige Frau so klein sein konnte. Antonia Minor ging ihr gerade mal bis zur Brust. Erfreut musterte sie die Ankommenden, sprang von ihrer Liege und begrüßte ihre männlichen Familienmitglieder herzlich. Dann blieb der Blick ihrer himmelblauen Augen an ihr hängen und Aurelia verschlug es den Atem. Julia und Gaius hatten diese Farbe von ihrer Großmutter geerbt. Antonia musterte sie kritisch von Kopf bis Fuß. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte sie gütig. Sanft nahm sie Aurelias Hände in die Ihren und drückte sie leicht.
„Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich, Aurelia", sagte sie mit belegter Stimme. Ihre Worte trafen Aurelia wie ein Schlag ins Gesicht. Denn abgesehen von ihrer Haarfarbe glich sie ihrer wahren Mutter sehr. Verbissen drängte Aurelia den Schmerz zurück und erwiderte das Lächeln ihrer Gastgeberin höflich.
Immer noch lächelnd streifte Antonia ihr einen goldenen Siegelring über den rechten Zeigefinger. Hastig beteuerte Aurelia, dass sie ihn unmöglich annehmen konnte. Aber Antonia hielt ihre Hand eisern umklammert und drehte sie so ins Licht, dass Aurelia die Gravur betrachten konnte. Nur ihre elegant ineinander verschlungenen Initialien: AV. Ein wunderschöner Ring, genau so wie Aurelia ihn selbst herausgesucht hätte.
„Jeder Aurelia steht ein eigener Siegelring zu. Als Patronin deiner Familie und meiner langen Freundschaft zu deinem Vater möchte ich dir diesen schenken", unterbrach Antonia sie. Ihr Ton duldete keinen Widerspruch. Aurelia sank in einen Hofknicks und senkte demütig den Kopf, während sie sich leise für die Güte der Patronin ihrer Familie bedankte. Als sie den Blick wieder hob, lächelte Antonia sie sanft an.
„Willkommen Zuhause, Aurelia Vespasia", sprach Antonia feierlich, lies ihre Hände los und wies ihnen ihre Plätze am Tisch zu. Vespasius und Vespasian teilten sich die Speiseliege zu Antonias rechten Seite, während Aurelia sich zu dem missmutig dreinblickenden Senator gesellen musste. Am Gespräch nahm sie kaum teil, weil sie nur recht wenig vom Thema verstand. Gedankenverloren betrachtete sie die kunstvollen Wandteppiche an den Wänden, die Szenen aus den Metamorphosen erzählten. Der Anflug eines kleinen Lächelns stahl sich auf ihr Gesicht. Immer wieder begegnete sie diesem Werk der Antike auf Neue.
Plötzlich wurde die Tür erneut schwungvoll geöffnet. Schnell drehte Aurelia den Kopf, weil sie neugierig war, wer noch alles eingeladen worden war. Schlagartig wurde ihr Körper taub und kalt. Warum hatte sie nur immer ein solches Pech?
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Aurelia
Ficción históricaIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...