Das Klacken der Tür riss sie endgültig aus dem Schlaf. Blinzelnd öffnete sie die Augen und musterte stirnrunzelnd die Kuhle neben ihr. Hastig setzte sie sich auf und stellte erleichtert fest, dass sie allein war. Etwas beruhigt ließ sie sich zurück in die Kissen gleiten. Sofort kroch ihr wieder sein Duft in die Nase, den sie gestern zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte. Seufzend schlug sie sich die Hand vor die Stirn. Warum musste er nicht nur so aussehen wie ein verdammter römischer Gott, sondern auch noch so riechen. Warum konnte er nicht einfach ein stinkendes, unsympathisches Ekel sein, dann hätte sie ihn einfach hassen können.
Doch sie musste anfangen ehrlich mit sich selbst zu sein. Bis jetzt war er nichts anderes als höflich zu ihr gewesen und vermutlich verdankte sie ihm auch noch ihr Leben. Schuldete sie ihm dadurch irgendetwas? So weit sie wusste, war das Ehrgefühl der Römer stark ausgeprägt.
Vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht – und sie war tatsächlich entsetzt, dass ihr dieser Gedanke auch nur ansatzweise in den Sinn kam – war Caligula gar nicht so verrückt, wie ihn die alten Quellen immer dargestellt hatten. Welcher Wahnsinniger würde so viel für eine Fremde riskieren? Vielleicht würde er tatsächlich erst in ein paar Monaten, wenn er an dieser dubiosen Krankheit erkranken würde, den Verstand verlieren. Bei dem Gedanken, dass er nicht einmal dreißig werden würde, überkam sie eine tiefe Traurigkeit. Wie unbedeutend wir Menschen letztendlich doch sind.
Damit sie nicht wieder einschlief, schnappte sie sich das Buch, das neben dem Bett lag. Obwohl sie am Anfang ihres Studiums ein Semester lang Ovids Metamorphosen übersetzt hatte, war sie noch ziemlich am Anfang. Vieles hatte sie vergessen. Aber am meisten wurde sie von der römischen Schreibart behindert: Wer hatte bitte die Idee Wörter auf einem Blatt Papier nicht voneinander abzutrennen? Doch mittlerweile hatte sie sich relativ daran gewöhnt. Ovids Geschichten waren auch einfach so schön.
„Interessante Lektüre?“, unterbrach eine sanfte Stimme ihre Konzentration. Mehrmals blinzelnd versuchte sie ihn zu fixieren. Caligulas Haare waren noch feucht von seinem Bad und standen in alle Richtungen ab. Mit verstrubelten Haaren sah er unglaublich heiß aus. Heiß? Schnell schüttelte Aurelia den Kopf und war froh, dass Caligula bereits seine Tunika trug und nicht bloß ein Handtuch um die Hüfte geschlungen hatte.
Aurelia zwang sich das Buch zu schließen und dabei zu nicken. Caligula fuhr sich mit der Hand durchs Haar und zögerte kurz. Dann setzte er sich neben sie aufs Bett und nahm ihr das Buch aus der Hand.
„Du hättest wenigstens vorher fragen können, bevor du dir einfach meine Sachen nimmst“, fuhr er fort und Aurelia versuchte eine reumütige Miene aufzusetzen, dabei tat es ihr gar nicht leid. Noch nie war sie dem richtigen Ovid so nahe gewesen und nicht nur einer über die Jahrhunderte verfälschte und verwässerte Handschrift der Handschrift der Handschrift der…
„Ich danke dir“, murmelte sie und hoffte, dass sie nicht irgendetwas total blödes wie Ich Freude dich auf Latein gesagt hatte. Noch immer fand sie es seltsam wirklich Latein zu reden und nicht nur aufzuschreiben. Caligula kratzte sich verlegen hinterm Ohr. Errötete er etwa? Er öffnete den Mund, doch Aurelia unterbrach ihn sogleich. „Es tut mir leid, wie ich mich in den vergangenen Tagen benommen habe, obwohl du so viel für mich getan hast. Es ist nur so, ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Als du mir erzählt hast, wer du bist, war das einfach zu viel für mich“
Schweigend musterten sie sich. Dann seufzte er tief, lehnte sich wie sie an die Wand und schloss die Augen.
„Du bist so frustrierend“, murmelte er. Mit einem Mal verspürte sie den Wunsch ihm einfach alles zu erzählen. Mit irgendjemandem musste sie über diese verrückten Dinge sprechen, die ihr wiederfahren waren. Doch würde er ihr glauben? Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Würde sich etwas ändern, wenn er die Wahrheit über sie wüsste? Vermutlich alles. Denn es auszusprechen würde es nur real machen. Sie gehörte nicht hier her. Mit einem Ruck setzte er sich auf und ihre Blicke trafen sich.
„Bitte“, flüsterte er und nahm ihre Hand in seine. „Bitte sag mir endlich, wer du bist“
Aurelia spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen und versuchte verzweifelt sie zurückzuhalten. Sie wollte nicht weinen. Nicht schon wieder und nicht vor ihm. Leise flüsterte sie zurück: „Ich bin nur ich“
Eine einzelne Träne konnte sich widersetzen und bahnte sich langsam ihren Weg aus dem Augenwinkel über ihre Wange. Bestürzt fing Caligula mit seiner freien Hand ihre Träne auf und hauchte: „Bitte weine nicht, meine Schöne“
Beruhigend drückte er ihre Hand und durch diese kleine Geste gelang es Aurelia ihre Tränen hinunterzuschlucken. Sie atmete ein paar Mal ein und aus. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie nah ihr Caligula war und vor allem, dass er immer noch ihre Hand hielt. Verunsichert sah sie ihn an.
„Ich weiß, dass du mir nicht vertraust, Aurelia“, sagte er und erwiderte traurig ihren Blick. „Vermutlich hast du sogar Angst vor mir. Aber ich verspreche dir, dass ich dich vor jeder Gefahr beschützen werde. Ich schwöre es beim heiligen Fluss Styx. Deine Geheimnisse sind bei mir sicher, wenn du eines Tages bereit bist, sie mir zu erzählen“
Sein Blick wurde immer intensiver, in jedem seiner Worte hörte sie seine Ernsthaftigkeit und seine Ehrlichkeit widerhallen und er brachte damit etwas in ihre zum Klingen, vor dem sie sich selbst fürchtete.
„Caligula…“, murmelte sie und er zuckte zusammen. Überrascht verstummte sie.
„Mein Name ist Gaius“, meinte er schroff. „Caligula war ein kleiner Junge, zu klein, um die Welt um ihn herum zu verstehen. Bitte nenn mich nie wieder so“
Beschämt bat sie Gaius um Verzeihung. Er nickte nur träge und versprach ihr ein anderes Mal alles zu erklären. Heute wäre die Zeit zu knapp, außerdem würde er gern mit ihrem Unterricht beginnen wollen.
„Unterricht?“, wollte Aurelia wissen und Gaius nickte. Fordernd zeigte er auf das Buch in ihrem Schoß und verlangte: „Lies mir vor“
Stirnrunzelnd klappte sie das Buch auf und suchte nach einer Stelle, die sie sich bereits entschlüsselt hatte. Vor ihren Augen begannen die Buchstaben zu verschwimmen. Warum sollte sie auch mitten in der Geschichte anfangen? Sie atmete einmal tief durch, blätterte auf die erste Seite und räusperte sich. Dann begann sie etwas stockend vorzutragen:„In nova fert animus mutatas dicere formas
corpora; di, coeptis nam vos mutastis et illa
aspirate meis primaque ab origine mundi
ad mea perpetuum deducite tempora carmen…“An dieser Stelle gab Gaius ihr ein Zeichen aufzuhören. Hastig klappte sie das Buch zu und blickte ihn unsicher an. Hatte sie vergessen einen Buchstaben zu verschleifen oder irgendwo eine falsche Silbe betont? Nachdem er sie eine Weile forschend gemustert hatte, traute sie sich schließlich zu fragen, was sie falsch gemacht hatte. Sofort begann er prustend zu lachen. Beleidigt starrte Aurelia ihn an, bis er ihr schließlich das Buch aus der Hand nahm, es wieder aufklappte und ihr bedeutete mitzulesen. Danach trug er die gleichen Verse noch einmal vor ohne auch nur einen Blick auf die Buchstaben zu erhaschen, die auf Aurelias Schoß lagen. Nun musste sie an sich halten nicht zu lachen. Denn während Aurelia Silben betonte, indem sie Silben dehnte oder kürzte, erschuf Gaius einen Rhythmus, indem er manche Silben höher sprach als andere. In ihren Ohren klang es einfach nur albern. Als er geendet hatte, schaute er sie erwartungsvoll an. Doch Aurelia wusste nicht, was sie sagen sollte. Gaius seufzte schwer.
„Aurelia“, murmelte er müde. „Es tut mir leid, dass ich gelacht habe. Es klang wirklich sehr schön. Doch du hast die Verse wie einen Prosatext vorgelesen. Diese Gedichte haben eine eigene Melodie, sie werden gemeinsam mit Musik vorgetragen und ihre Rhythmik kommt aus dem Tanz. Deshalb redet man ja auch von Heben und Senken“
Unbeirrt blickte Aurelia ihm in die Augen und erwiderte: „Ich habe gelernt, dass es Längen und Kürzen sind“
Eine Weile musterte Gaius sie, dann zuckte er mit den Achseln. Gab er sich wirklich geschlagen?
„Irgendwann wirst du die Unterschiede beherrschen“, meinte er schlicht, dann schnappte er sich das Buch und stellte es zurück ins Regal, als wäre es so zerbrechlich wie Glas.
„Hat es deinem Vater gehört?“, fragte sie leise und er zuckte zusammen, als hätte sie ihm hinter einer dunklen Ecke aufgelauert. Langsam drehte er sich um und schüttelte betrübt den Kopf.
„Nein“, antwortete er ruhig. „Der Codex gehört meiner Mutter, ich habe ihn heimlich nach Capri geschmuggelt“
Stutzig geworden runzelte sie die Stirn, griff nach ihrer Wachstafel und begann zu rechnen. Hastig prüfte sie immer wieder ihr Ergebnis. Sie musste sich verrechnet haben. Doch egal wo sie nach Fehlern suchte, sie fand keinen einzigen. Erschrocken hob sie den Blick und sah Gaius tief in die himmelblauen Augen, welche sie verwundert beobachteten.
„Deine Mutter ist seit über einem Jahr tot“, sagte sie überrascht. Seine Augen weiteten sich, dann schüttelte er heftig den Kopf.
„Nein“, antwortete er nüchtern. „Sie lebt, Tiberius hat sie zusammen mit meinem Bruder in die Verbannung…“
„Das weiß ich!“, unterbrach sie ihn barsch. „Sie sind beide dort gestorben“
Langsam näherte sich Gaius dem Bett, auf dem sie immer noch saß und ließ sie keinen Augenblick aus den Augen wie ein Löwe, der sich an seine Beute anschlich.
„Aurelia“, sagte er, als nur noch wenige Zentimeter ihre Gesichter voneinander trennten. „Wenn meine Mutter und mein Bruder tot wären, dann hätte Tiberius mir das mitgeteilt. Er weiß ganz genau, dass ich nur hier bin, um ihre Freilassung zu erbitten“
Aurelia schluckte die in ihr aufkeimende Angst hinunter und sagte noch einmal mit fester Stimme, dass Tiberius log. Er musterte sie immer forschender, kam ihr immer näher. Wenn sie den Kopf ein kleines bisschen anheben würde, würden sich ihre Lippen treffen. Aurelias Blick huschte von seinen Lippen zurück zu seinen Augen. Behutsam legte sie eine Hand auf seine Wange und flüsterte sanft: „Ich schwöre dir, Gaius, dass ich dich nicht anlüge, weder jetzt noch in Zukunft. Es gibt Dinge, die ich dir noch nicht erzählen kann, weil du sie mir eh nicht glauben würdest. Aber ich sage dir die Wahrheit: Sie sind tot, du kannst ihnen nicht mehr helfen. Du musst dich selbst retten, bevor es zu spät ist“
Angst blitzte in seinen Augen auf, ebenso wie etwas anderes: Gewissheit. Gaius machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer. Ihre Hand fiel schlaff zurück auf das Bett. Was hatte sie getan?
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Aurelia
Historical FictionIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...