Die Hand bereits auf die Klinke gelegt, hielt Agrippina inne und versuchte sich auf das vorzubereiten, was sie hinter dieser Tür erwarten würde. Ihre andere Hand legte sie schützend auf ihren geschwollenen Bauch. Sie hatte sich für eine Seite entschieden und nun würde sie alles daran setzten, dass sie gewinnen würden. Gefasst öffnete sie die Tür und dennoch versetze ihr der Anblick einen kleinen Stich ins Herz.
Die im leichten Wind wehenden weißen Vorhänge ließen einen warmen Streifen Sonnenlicht hereinfallen und tauchten die Szene in seichtes Licht. Auf dem gigantischen Bett lagen eng miteinander verflochten ihr Bruder Gaius und Aurelia. Liebevoll betrachtete Aurelia ihren schlafenden Mann und als Agrippina leise in das Zimmer trat, wandte sie ihr den Blick nur sehr widerwillig zu. Agrippina öffnete den Mund, doch sofort legte Aurelia besorgt einen Finger auf die Lippen und deutete mit vorwurfsvollen Augen stumm auf Gaius. Agrippina wurde warm ums Herz. Die Liebe und das Glück in diesem Raum bestätigten ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Macro liebte sie nicht auf diese Weise und Agrippina sehnte sich zu sehr danach, dass sie sich mit etwas anderem nicht mehr zufrieden geben wollte. Sie wollte eine Liebe, die etwas erschuf und nicht alles verzehrte.
Mit einer drängenden Handbewegung bat Agrippina ihre Freundin zu ihr zu kommen. Aurelia nickte und begann sich behutsam aus Gaius' Umarmung zu lösen. Kaum hatte sie sich auf der Bettkante aufgesetzt und einen Fuß auf den Boden gesetzt, schlang sich Gaius' Arm um sie und zog sie wieder neben sich auf das Bett. Eine zarte Röte stieg Aurelias Wangen hinauf. Fragend erwiderte sie Agrippinas Blick, die nur die Augen verdrehte und mit den Lippen formte, dass sie sich beeilen sollte. Schweren Herzens versuchte Aurelia Gaius von sich zu schieben, doch der brummte nur im Schlaf und zog sie näher an sich.
„Lass mich gehen", flüsterte Aurelia so leise, dass Agrippina sie kaum verstand. „Dann kannst du in aller Ruhe weiterschlafen"
Gaius grummelte nur und schlug träge die Augen auf.
„Und wenn ich nicht will, dass du schon gehst?", raunte er und Aurelias Wangen wurden eine Spur dunkler. Verwirrt musterte Gaius ihre roten Wangen und blickte sich dann suchend im Raum um, bis er seine Schwester auf der Türschwelle entdeckte. Genervt vergrub er das Gesicht in Aurelias Haaren und verstärkte seinen Griff um ihren Körper.
„Sag ihr, dass sie weggehen soll", quengelte Gaius wie ein kleines Kind und Aurelia strich im sanft mit der Hand durchs Haar. Dann flüsterte sie irgendetwas in sein Ohr, worauf er ihr in die Augen blickte und etwas zurück murmelte, was Aurelia leise zum Lachen brachte. Unbehaglich trat Agrippina von einem Fuß auf den anderen. Noch nie in ihrem Leben war sie sich so sehr als Eindringling vorgekommen. Durch das Geräusch an ihre Anwesenheit erinnert, hob Gaius den Kopf. Ohne den Blick von Aurelia zu lösen, befahl er seiner Schwester: „Warte im Atrium auf uns, Agrippina!"
Dann strich er zärtlich mit beiden Händen Aurelias Haare aus ihrem Gesicht und hob es an. Wie ein Ertrinkender, der endlich die rettende Wasseroberfläche durchbrach, küsste er sie. Aurelias Lider senkten sich flatternd und sie vergaßen die Welt um sich herum. Geräuschlos wandte Agrippina sich ab und floh aus den Gemächern ihres Bruders.Während Aurelia in ihre Kleidung schlüpfte, begannen sich ihre Gedanken um Agrippinas merkwürdigen Besuch zu kreisen und sie bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie sich von Gaius hatte ablenken lassen. Ihr Blick huschte zu ihm, der sich gerade seine Toga anlegen ließ und auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Noch nie in ihrem Leben war sie so glücklich gewesen wie mit ihm.
Als hätte er ihren Blick gespürt, hob er den Kopf und erwiderte ihr Lächeln mit einem schiefen Grinsen. Aurelias Herz machte einen kleinen Hüpfer. Nara steckte Aurelias Haar zu einem kunstvollen Knoten auf und drapierte einen Schleier auf ihrem Kopf. Aurelia nestelte unbehaglich an dem Stoff und musterte sich im Spiegel. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Zwar wirkte sie wie eine Römerin in einer Doku, doch sie fühlte sich nicht wie sie selbst. Gaius trat hinter sie und zupfte ihr ein paar kurze Haarsträhnen ins Gesicht, sodass ihre Frisur an Strenge verlor.
„Bist du bereit?", fragte er sie leise, Aurelia drückte sanft seine Hand und nickte. Grinsend zog er sie von ihrem Stuhl und führte sie durch den Palast. Im Atrium hatten sich bereits einige Klienten versammelt und richteten ihre Aufmerksamkeit nun auf das ankommende Paar. Unter die Wartenden hatten sich auch Gaius' Schwestern gemischt, die genauso förmlich gekleidet waren wie sie. Allerdings stand das anzügliche Grinsen auf Drusillas Lippen im Kontrast zu ihrer frommen Aufmachung und Aurelia spürte, wie sie schon wieder errötete. Am Fuße der Treppe verabschiedete Gaius Aurelia mit einem flüchtigen Kuss auf die Stirn und widmete sich danach ganz seinen Klienten. Mit einem schüchternen Lächeln bahnte sich Aurelia ihren Weg zu Drusilla, Agrippina und Julia. Als Drusilla den Mund öffnete, stupste Julia ihr unauffällig den Ellbogen in die Seite und deutete subtil auf die Senatoren in ihrer Nähe, die gierig nach Klatsch die Ohren spitzten. Drusilla klappte schnell ihren Mund wieder zu und ihr Gesicht nahm eine Ernsthaftigkeit an, die Aurelia nie zuvor bei ihr gesehen hatte.
„Lasst uns aufbrechen", bat Agrippina und hakte sich augenzwinkernd bei Aurelia unter. Kurz darauf saß jede von ihnen in einer sanft schaukelnden Sänfte. Vor einem schmiedeeisernen Tor hielten sie an. Neugierig versuchte Aurelia beim Aussteigen einen Blick auf das Grundstück zu erhaschen, doch die hohen Mauern zwangen sie zum Warten. Julia trat neben sie und zupfte ihren Schleier zurecht.
„Bist du bereit?", fragte sie leise und Aurelia zuckte mit den Schultern. Julia lächelte ihr zu, dann drückte sie das Tor auf und eine nach der anderen betraten sie einen herrlichen Terrassengarten mit wunderschönen Skulpturen. Trotz der kälteren Temperaturen blühten widerspenstige Pflanzen. Eine schmale Treppe führte hinauf zu einem eleganten Tempel, in dessen Nähe sich bereits einige Frauen im Gebet vertieft befanden.
Ein Zischen drang an Aurelias Ohr und beunruhigt blickte sie sich nach allen Seiten um. Doch weil sie die Ursache des Geräusches nicht ausfindig machen konnte, folgte sie ihren Schwägerinnen eilig die Stufen hinauf. Das Zischen wurde lauter. Ruckartig blieb Aurelia stehen und entdeckte eine kleine, haselnussbraune Schlange am Sockel einer Frauenstatue, die sich der Sonne entgegenstreckte. Fasziniert beobachtete Aurelia die Schlange. Als hätte sie ihren Blick gespürt, hob die Schlange träge den Kopf und sah ihr aufmerksam in die Augen.
„Geh weiter", raunte ihr eine vertraute Stimme ins Ohr und eine warme Hand legte sich auf ihren Arm. Widerwillig wandte sich Aurelia der Sprecherin zu. Gutmütig lächelte Antonia zu ihr auf. Gemeinsam schritten sie den gaffende Frauen entgegen und Aurelia entdeckte immer mehr Schlangen auf dem Gelände.
„Sind sie gefährlich?", fragte Aurelia leise und die alte Dame kicherte leise.
„Wen meinst du, meine Liebe?", wollte Antonia wissen und Aurelia wich ihrem stechenden Blick aus.
„Die Schlangen besitzen kein Gift", erklärte Antonia leise. „Sie sind die Tiere der guten Göttin und symbolisieren vor allem Fruchtbarkeit. Vor den Frauen dort oben solltest du dich in Acht nehmen. Ennia hat ihre ordinären und dummen Freundinnen um sich geschart. Ohne jeden Zweifel spionieren sie hier für ihre Männer. Da du ab sofort unserer Gemeinschaft vorstehst, darfst du dir die Frauen aussuchen, die dich in den Tempel begleiten. Solange du sie nicht hinein bittest, müssen sie ihre Gebete hier draußen vor den Statuen der guten Göttin sprechen. Obwohl Ennia mehr als ein paar Gebete benötigt, um ihre Ehe zu retten"
Bevor Aurelia nachfragen konnte, was Antonia damit meinte, waren sie bereits auf Hörweite zu den anderen Frauen herangetreten und so schluckte sie ihre Fragen hinunter und setze ein strahlendes Lächeln auf. Ebenfalls lächelnd trat Ennia zu ihnen. Drusilla, Julia und Agrippina hielten sich bewusst im Hintergrund.
„Möchtet Ihr heute ungestört Euren Gebeten nachgehen?", fragte Ennia förmlich und senkte ergeben den Blick. Sanft drückte Antonia kurz ihren Arm und trat dann einen Schritt zurück.
„Ja", sagte Aurelia mit fester Stimme. „Meine Schwägerinnen und ihre Großmutter sollen mich begleiten"
Ohne die anderen Frauen weiter zu beachten, stieg Aurelia die letzten zwölf Stufen zum Tempel empor und betrat neugierig das Heiligtum, dessen Geheimnisse sie endlich entdecken wollte.
Ihre Schritten hallten von den Wänden wieder. Vor dem Altar kniete sie demütig nieder, so wie Antonia es sie gelehrt hatte und wagte zu dem gütig auf sie herablächelnden Marmorgesicht der Bona Dea aufzublicken.
„Deine Geheimnisse sind bei mir sicher", versprach sie, schloss die Augen und atmete tief die Mischung aus Weihrauch und Wein ein, welche die Luft erfüllte. Hinter sich hörte sie das Rascheln der Gewänder, als ihre Mentorin und ihre drei Freundinnen vor der Göttin niederknieten. Plötzlich durchströmte Aurelia Wärme und sie wusste, dass sie es schaffen konnte. Sie waren nicht allein.
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Aurelia
Historical FictionIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...